Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Einige kannte sie schon vorher, aber nicht so gut wie jetzt. Die Frauen tauschen sich aus, trinken und lachen, bis sie weinen. Sie sagen, sie können es nicht glauben. Männer. Was sie tun. Es ist so krank und dumm. Man kann’s nicht glauben.
Deswegen ist es wahr.
Inmitten dieser Gespräche fühlt Joyce sich wohl. Doch. Sie sagt, dass es sogar Augenblicke gebe, in denen sie Jon dankbar sei, denn sie fühle sich jetzt lebendiger als je zuvor. Es sei schrecklich, aber wunderbar. Ein neuer Anfang. Die nackte Wahrheit. Das nackte Leben.
Aber wenn sie um drei oder vier Uhr morgens aufwachte, fragte sie sich, wo sie war. Nicht mehr in ihrem Haus. Edie war jetzt in diesem Haus. Edie und ihr Kind und Jon. Ein Tausch, den Joyce selbst vorgeschlagen hatte, mit dem Gedanken, das könnte Jon zur Vernunft bringen. Sie zog in eine Wohnung in der Stadt. Die Wohnung gehörte einer Lehrerin, die ein Sabbatjahr hatte. Sie wachte nachts auf, die blinkenden rosa Lichter vom Restaurantschild auf der anderen Straßenseite schienen durchs Fenster und beleuchteten den mexikanischen Krimskrams der anderen Lehrerin. Kakteen, herunterhängende Katzenaugen, Decken mit Streifen in der Farbe von getrocknetem Blut. All die betrunkenen Einsichten, all der heitere Überschwang waren fort, ausgesondert wie Erbrochenes. Davon abgesehen war sie nicht verkatert. Sie konnte anscheinend in Alkohol baden und anschließend trocken, plattgedrückt wie Pappe aufwachen.
Ihr Leben dahin. Ein alltägliches Malheur.
In Wahrheit war sie immer noch betrunken, obwohl sie sich stocknüchtern fühlte. Sie lief Gefahr, sich ins Auto zu setzen und zum Haus hinauszufahren. Nicht, in einen Graben zu fahren, denn sie fuhr dann immer sehr langsam und ruhig, sondern, im Hof vor den dunklen Fenstern zu halten und Jon zuzurufen, dass sie damit aufhören mussten.
Hör auf damit. Das ist alles falsch. Sag ihr, sie soll weggehen.
Weißt du noch, wie wir auf der Wiese geschlafen haben und aufgewacht sind, und um uns herum kauten die Kühe, und am Abend vorher hatten wir sie gar nicht bemerkt? Weißt du noch, wie wir uns in dem eiskalten Bach gewaschen haben? Wir haben auf Vancouver Island Pilze gesammelt und sind nach Ontario geflogen und haben sie da verkauft, um die Fahrt bezahlen zu können, als deine Mutter krank war und wir dachten, dass sie stirbt. Und wir sagten, was für ein Witz, wir sind gar keine Junkies, sondern erfüllen nur eine Sohnespflicht.
Die Sonne ging auf, die grellen mexikanischen Farben grinsten sie allmählich in all ihrer Scheußlichkeit an, und nach einer Weile stand sie auf und wusch sich, klatschte sich Rouge auf die Wangen, trank schwarzen Kaffee, stark wie Gift, und zog etwas von ihren neuen Sachen an. Sie hatte sich neue spärliche Tops, wehende Röcke und dazu Ohrringe gekauft, die mit Federn in allen Farben des Regenbogens verziert waren. So ging sie hinaus, um an der Schule Musik zu unterrichten, sah aus wie eine Zigeunertänzerin oder eine Bardame. Sie lachte über alles und flirtete mit jedem. Mit dem Mann, der ihr im Schnellrestaurant unten das Frühstück machte, mit dem Jungen, der Benzin in ihren Tank füllte, und mit dem Beamten, der ihr am Postschalter Briefmarken verkaufte. Sie hatte die Vorstellung, dass Jon davon hören würde, wie hübsch sie aussah, wie sexy und glücklich, wie sie alle Männer einfach umhaute. Sobald sie die Wohnung verließ, war sie auf einer Bühne, und Jon war der eigentliche, wenn auch indirekte Zuschauer. Obwohl Jon sich nie etwas aus reizendem Aussehen und kokettem Verhalten gemacht hatte, nie gefunden hatte, dass sie deshalb attraktiv war. Als sie auf Reisen waren, hatten sie sich oft mit gemeinsamer Garderobe begnügt. Dicke Socken, Jeans, dunkle Hemden, Windjacken.
Noch eine Veränderung.
Sogar bei den kleinsten oder den minderbemitteltsten Kindern, die sie unterrichtete, war der Tonfall jetzt zärtlich, voller schelmischem Gelächter, ihre Ermutigungen unwiderstehlich. Sie bereitete ihre Schüler auf das Konzert am Schluss des Schuljahres vor. Bislang war sie von diesem Abend mit öffentlichen Auftritten gar nicht begeistert gewesen – ihrer Meinung nach beeinträchtigte er den Fortschritt der Schüler, die begabt waren, er trieb sie in eine Situation, für die sie noch nicht bereit waren. So viel Anstrengung und Anspannung konnten nur falsche Werte hervorbringen. Aber in diesem Jahr stürzte sie sich auf alle Komponenten des Abends. Das Programm, die Beleuchtung, die Ansagen und natürlich
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