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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Waghalsigkeit zu tun als mit irgendetwas anderem.
    Hier bin ich, hätte ich vielleicht sagen mögen, in der Haut meines Körpers, was mich ebenso wenig beschämt wie die Nacktheit meiner Zähne. Natürlich stimmte das nicht, ich hatte sogar einen Schweißausbruch, wenn auch nicht aus Angst vor einer Vergewaltigung.
    Mr Purvis gab mir die Hand und schien keinerlei Notiz davon zu nehmen, dass ich unbekleidet war. Er sagte, er freue sich, Ninas Freundin kennenzulernen. Geradeso, als sei ich jemand, den Nina vom College mit nach Hause gebracht hatte.
    Was nicht ganz falsch war.
    Ich sei sehr anregend für Nina, sagte er.
    »Sie bewundert Sie sehr. Jetzt müssen Sie aber Hunger haben. Wollen wir nachschauen, was man für uns zubereitet hat?«
    Er hob die Deckel und machte sich daran, mir vorzulegen. Poularden, die ich für Zwerghühner hielt, Safranreis mit Rosinen, verschiedene, in feine Scheiben geschnittene und fächerartig ausgelegte Gemüse, die ihre natürlichen Farben getreuer bewahrt hatten als die Gemüse, die ich sonst zu sehen bekam. Eine Schale mit schlammig grünem sauer Eingelegtem und eine Schale mit dunkelrotem Eingemachtem.
    »Nicht zu viel davon«, sagte Mr Purvis. »Ein bisschen zu scharf für den Anfang.«
    Er wies mich an den Tisch zurück, wandte sich wieder dem Büfett zu, tat sich selbst ein wenig auf und setzte sich.
    Auf dem Tisch standen ein Krug mit Wasser und eine Flasche Wein. Ich bekam Wasser. Mir in seinem Haus Wein einzuschenken, sagte er, lasse sich ohne weiteres als Kapitalverbrechen einstufen. Ich war ein wenig enttäuscht, denn ich hatte noch nie Gelegenheit gehabt, Wein zu trinken. Wenn wir ins Old Chelsea gingen, erklärte Ernie immer, wie sehr es ihn freue, dass sonntags kein Alkohol ausgeschenkt werde. Er trank nicht nur selber nichts, weder am Sonntag noch an irgendeinem anderen Tag, sondern er mochte es auch nicht, wenn andere etwas tranken.
    »Nina hat mir neulich erzählt«, sagte Mr Purvis, »dass Sie Englische Philosophie studieren, aber ich denke doch, es muss Englisch
und
Philosophie sein, habe ich recht? Denn es gibt doch gewiss keinen so großen Vorrat an englischen Philosophen?«
    Trotz seiner Warnung hatte ich einen Klacks von dem grünen Zeug in den Mund genommen und stand zu sehr unter Schock, um antworten zu können. Er wartete höflich, während ich ein Glas Wasser trank.
    »Wir haben mit den Griechen angefangen. Es ist ein Einführungskurs«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte.
    »Ach, ja. Griechenland. So weit Sie bislang bei den Griechen gekommen sind, wen bevorzugen Sie – oh, nein. Einen Augenblick. So lässt es sich leichter zerteilen.«
    Es folgte eine Demonstration, wie man das Fleisch von den Knochen einer Poularde löst – elegant und ohne Herablassung, als sei es ein Scherz, den wir miteinander teilten.
    »Wen bevorzugen Sie?«
    »Wir sind noch nicht bis zu ihm gekommen, wir nehmen gerade die Vorsokratiker durch«, sagte ich. »Aber Platon.«
    »Sie bevorzugen Platon. Sie lesen also voraus. Sie bleiben nicht nur dort, wo Sie sollen? Platon. Ja, das hätte ich mir denken können. Gefällt Ihnen die Höhle?«
    »Ja.«
    »Ja, natürlich. Die Höhle. Die ist schön, nicht wahr?«
    Im Sitzen war das Skandalöseste an mir außer Sicht. Wären meine Brüste so winzig und schmuck wie Ninas gewesen und nicht voll, mit großen Brustwarzen und eindeutiger Funktion, hätte ich fast unverklemmt sein können. Ich versuchte ihn anzusehen, wenn ich sprach, aber gegen meinen Willen stieg mir immer wieder die Röte ins Gesicht. Wenn das passierte, meinte ich, dass seine Stimme sich ein wenig veränderte, sich besänftigend und auf höfliche Art zufrieden anhörte. Geradeso, als habe er in einem Spiel einen gewinnbringenden Zug getan. Aber er fuhr fort, lebhaft und unterhaltsam zu plaudern, und erzählte mir von einer Reise nach Griechenland. Delphi, die Akropolis, das berühmte Licht, das man nicht für möglich hielt, das es aber dennoch gab, die karge Landschaft des Peloponnes.
    »Und dann nach Kreta – wissen Sie etwas über die minoische Kultur?«
    »Ja.«
    »Aber sicher. Natürlich. Und wissen Sie auch, wie die minoischen Damen sich kleideten?«
    »Ja.«
    Diesmal sah ich ihm ins Gesicht, in die Augen. Ich war entschlossen, mich nicht zu drücken, nicht mal, als ich in meinem Hals die Hitze aufsteigen spürte.
    »Sehr hübsch, diese Mode«, sagte er fast traurig. »Sehr hübsch. Merkwürdig, welche Körperteile man zu verschiedenen Zeiten verbarg. Und

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