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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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schloss sich hinter mir. Vielleicht verabschiedete ich mich. Es kann sogar sein, dass ich mich bei ihm für das Abendessen bedankte und dass er ein paar trockene Worte an mich richtete (keine Ursache, ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft, es war sehr freundlich von Ihnen, danke, dass Sie mir Housman vorgelesen haben …), mit plötzlich müder, alter, brüchiger und gleichgültiger Stimme. Er rührte mich nicht an.
    Derselbe spärlich beleuchtete Umkleideraum wie zuvor. Meine Sachen wie zuvor. Das türkisgrüne Kleid, meine Strümpfe, mein Unterrock. Mrs Winner erschien, während ich meine Strümpfe befestigte. Sie sagte nur eines zu mir, als ich bereit zum Aufbruch war.
    »Sie haben Ihren Schal vergessen.«
    Und wirklich lag da der Schal, den ich im Hauswirtschaftsunterricht gestrickt hatte, das einzige Stück, das ich in meinem ganzen Leben gestrickt habe. Fast hätte ich ihn liegenlassen, an diesem Ort.
     
    Als ich aus dem Auto stieg, sagte Mrs Winner: »Mr Purvis würde Nina gern sprechen, bevor er zu Bett geht. Wenn Sie ihr das ausrichten würden.«
     
    Aber da war keine Nina, um seine Nachricht entgegenzunehmen. Ihr Bett war gemacht, ihr Mantel und ihre Schuhe waren fort. Ein paar von ihren Sachen hingen noch im Schrank.
    Beverly und Kay waren beide übers Wochenende nach Hause gefahren, also rannte ich hinunter ins Erdgeschoss, um nachzuhören, ob Beth irgendetwas wusste.
    »Tut mir leid«, sagte Beth, der meines Wissens noch nie etwas leidgetan hatte. »Ich kann mich nicht auch noch um all euer Kommen und Gehen kümmern.«
    Dann, als ich mich abwandte: »Ich habe Sie schon hundert Mal gebeten, auf der Treppe nicht so zu trampeln. Sally-Lou ist eben erst eingeschlafen.«
    Als ich nach Hause kam, hatte ich mich noch nicht entschieden, was ich zu Nina sagen würde. Würde ich sie fragen, ob sie in dem Haus auch nackt sein musste, ob sie ganz genau gewusst hatte, was für ein Abend mich erwartete? Oder würde ich nicht viel sagen und darauf warten, dass sie mich fragte? Und selbst dann konnte ich unschuldig sagen, dass ich Poularde und gelben Reis gegessen hatte und dass beides sehr gut war. Dass ich aus
Ein Shropshire-Bub
vorgelesen hatte.
    Ich konnte sie einfach grübeln lassen.
    Aber jetzt, wo sie verschwunden war, hatte das alles keine Bedeutung mehr. Der Brennpunkt hatte sich verlagert. Mrs Winner rief nach zehn Uhr an – womit sie eine von Beths Regeln brach –, und als ich ihr sagte, dass Nina nicht da war, fragte sie: »Sind Sie sich da sicher?«
    Ebenso, als ich ihr sagte, dass ich keine Ahnung hatte, wo Nina steckte: »Sind Sie sicher?«
    Ich bat sie, nicht wieder vor dem nächsten Morgen anzurufen, wegen der Hausregeln von Beth und der schlafenden Babys, und sie sagte: »Mal sehen. Es ist ernst.«
    Als ich morgens aufstand, parkte das Auto gegenüber auf der Straße. Später klingelte Mrs Winner an der Haustür und sagte Beth, dass sie geschickt worden sei, um Ninas Zimmer zu überprüfen. Sogar Beth wurde von Mrs Winner eingeschüchtert, die daraufhin die Treppe heraufkam, ohne dass ein Vorwurf oder eine Ermahnung erscholl. Nachdem sie sich gründlich in unserem Zimmer umgesehen hatte, durchsuchte sie das Badezimmer und den Kleiderschrank, schüttelte sogar zwei Decken aus, die zusammengefaltet auf dem Boden des Schranks lagen.
    Ich hatte noch meinen Schlafanzug an, schrieb einen Essay über
Sir Gawain und der grüne Ritter
und trank Nescafé.
    Mrs Winner sagte, dass sie alle Krankenhäuser hatte anrufen müssen, um nachzuhören, ob Nina eingeliefert worden sei, und dass Mr Purvis selbst ausgefahren war, um an einigen anderen Orten nachzuschauen, an denen sie sein könnte.
    »Wenn Sie etwas wissen, sollten Sie es uns besser mitteilen«, sagte sie. »Irgendetwas.«
    Dann, als sie schon die Treppe hinunterging, drehte sie sich um und fragte in weniger drohendem Tonfall: »Gibt es irgendjemanden im College, mit dem sie sich angefreundet hat? Jemand, den Sie kennen?«
    Ich sagte, ich wisse niemanden.
    Ich hatte Nina nur zwei Mal im College gesehen. Einmal ging sie durch den unteren Flur der Philosophischen Fakultät, im Gedränge zwischen den verschiedenen Kursen. Ein andermal saß sie in der Mensa. Beide Male war sie allein. Es war nicht besonders ungewöhnlich, allein zu sein, wenn man von einem Kurs zum anderen eilte, aber es war ein wenig seltsam, bei einer Tasse Kaffee allein in der Mensa zu sitzen, am Nachmittag gegen Viertel vor vier, wenn fast niemand sonst dort war. Sie saß mit

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