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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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einem Lächeln auf dem Gesicht da, als fühle sie sich wohl, dort zu sein, privilegiert, wach und bereit, den Anforderungen dieses Lebens gerecht zu werden, sobald sie erkannt hätte, welche das waren.
     
    Am Nachmittag begann es zu schneien. Das Auto auf der anderen Straßenseite musste wegfahren, um dem Schneepflug Platz zu machen. Als ich ins Badezimmer ging und von ihrem Kimono am Türhaken gestreift wurde, spürte ich, was ich verdrängt hatte – Angst um Nina. Ich stellte sie mir vor, verwirrt, in ihre gelösten Haare weinend, in ihrer weißen Unterwäsche statt in ihrem Kamelhaarmantel im Schnee umherirrend, obwohl ich sehr wohl wusste, dass sie den Mantel mitgenommen hatte.
     
    Das Telefon klingelte gerade, als ich am Montagmorgen zu meinem ersten Kurs aufbrechen wollte.
    »Ich bin’s«, sagte Nina, hastig und warnend, aber mit etwas wie Triumph in der Stimme. »Hör zu. Bitte. Könntest du mir bitte einen Gefallen tun?«
    »Wo bist du? Sie suchen dich.«
    »Wer?«
    »Mr Purvis. Mrs Winner.«
    »Du darfst es ihnen nicht sagen. Sag ihnen nichts. Ich bin hier.«
    »Wo?«
    »Bei Ernest.«
    »Bei Ernest?«, fragte ich. »Bei
Ernie

    »Psst. Hat dich jemand da gehört?«
    »Nein.«
    »Hör zu. Könntest du dich bitte, bitte in den Bus setzen und mir den Rest von meinen Sachen bringen? Ich brauche mein Shampoo. Ich brauche meinen Kimono. Ich laufe in Ernests Bademantel rum. Du müsstest mich mal sehen, ich sehe aus wie ein alter, wolliger brauner Hund. Steht das Auto noch draußen?«
    Ich ging nachsehen.
    »Ja.«
    »Na gut, dann musst du in den Bus steigen und zum College fahren, genau wie du’s immer tust. Und dann den Bus in die Innenstadt nehmen. Du weißt, wo du aussteigen musst. Campbell Ecke Howe. Dann läufst du hier rüber. Carlisle Street. Nummer dreihundertdreiundsechzig. Kennst du doch, nicht?«
    »Ist Ernie da?«
    »Nein, Dummchen. Er ist arbeiten. Er muss doch für uns sorgen.«
    Für
uns
? Für Nina und mich?
    Nein. Für sich und Nina.
Ernie und Nina
.
    Nina sagte: »Ach, bitte. Du bist doch der einzige Mensch, den ich habe.«
    Ich tat wie angewiesen. Ich nahm den College-Bus, dann den Bus in die Innenstadt. Ich stieg Campbell Ecke Howe aus und ging nach Westen zur Carlisle Street. Der Schneesturm war vorüber; der Himmel war klar; es war ein heller, windstiller, eiskalter Tag. Das Licht tat meinen Augen weh, und der frische Schnee knarrte unter meinen Schuhen.
    Jetzt auf der Carlisle Street ein Stück nach Norden, zu dem Haus, in dem Ernie mit seinen Eltern gelebt hatte, dann nur mit seiner Mutter und dann allein. Und jetzt – wie war das möglich? – mit Nina.
    Das Haus sah noch genauso aus wie damals, als ich ein oder zwei Mal mit meiner Mutter hergekommen war. Ein Backsteinbungalow mit winzigem Vorgarten und einem Bogenfenster im Wohnzimmer, dessen obere Scheibe aus buntem Glas war. Beengt und gutbürgerlich.
    Nina war, genau wie sie sich beschrieben hatte, in einen braunen, wollenen Männermorgenmantel gewickelt, mit seinem männlichen, aber unschuldigen Ernie-Geruch nach Rasierschaum und Lifebuoy-Seife.
    Sie ergriff meine Hände, die in ihren Handschuhen steif vor Kälte waren. Jede davon hatte den Griff einer Einkaufstasche umklammert.
    »Erfroren«, sagte sie. »Komm, wir stecken sie in warmes Wasser.«
    »Sie sind nicht erfroren«, sagte ich. »Nur eiskalt.«
    Aber Nina half mir aus dem Mantel, brachte mich in die Küche und ließ Wasser in eine Schüssel laufen, und als das Blut schmerzend in meine Finger zurückkehrte, erzählte sie mir, dass Ernest (Ernie) am Samstagabend zu unserem Haus gekommen war. Er hatte eine Zeitschrift mit vielen Fotos von alten Ruinen, Burgen und Schlössern mitgebracht, die mich vielleicht interessierten. Sie musste aus dem Bett aufstehen und hinuntergehen, weil er sich natürlich weigerte, nach oben zu kommen, und als er sah, wie krank sie war, sagte er, sie müsse mit zu ihm kommen, damit er sich um sie kümmern könne. Was er so gut getan hatte, dass ihr Hals fast wieder gesund und ihr Fieber völlig verschwunden war. Und dann hatten sie entschieden, dass sie hierbleiben würde. Sie würde einfach bei ihm bleiben und nie mehr dorthin zurückkehren, wo sie vorher war.
    Sie schien einen Widerwillen dagegen zu haben, auch nur den Namen von Mr Purvis auszusprechen.
    »Aber es muss ein großes Geheimnis bleiben«, sagte sie. »Du bist die Einzige, die es wissen darf. Weil du unsere Freundin bist und wir uns durch dich kennengelernt haben.«
    Sie

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