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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Mädchen, in Ordnung.
    Kein schwarzes Auto gegenüber auf der Straße, als wir uns bedankten und verabschiedeten. Kein schwarzes Auto, als wir durchs Dachfenster spähten. Wenig später klingelte das Telefon, es war für Nina, und ich hörte sie auf dem Treppenabsatz sagen: »Nein, nein, wir sind nur in die Bibliothek gefahren, haben ein Buch geholt und sind mit dem Bus direkt nach Hause gefahren. Ja, es kam gleich einer. Doch, es geht uns gut. Wirklich. Gute Nacht.«
    Sie kam tänzelnd und lächelnd die Treppe herauf.
    »Mrs Winner hat sich heute Abend in Schwierigkeiten gebracht.«
    Dann sprang sie auf mich zu und fing an, mich zu kitzeln, was sie hin und wieder ohne die geringste Vorwarnung tat, da sie entdeckt hatte, dass ich außerordentlich kitzlig war.
    Eines Morgens blieb Nina im Bett liegen. Sie sagte, sie habe Halsschmerzen und etwas Fieber.
    »Fühl mal.«
    »Du fühlst dich für mich immer warm an.«
    »Heute noch mehr.«
    Es war ein Freitag. Sie bat mich, Mr Purvis anzurufen und ihm zu sagen, dass sie übers Wochenende hierbleiben wolle.
    »Er wird es mir erlauben – er kann es nicht ausstehen, wenn jemand um ihn herum krank ist. In der Beziehung hat er einen Fimmel.«
    Mr Purvis überlegte, ob er einen Arzt rufen solle. Nina hatte das vorausgesehen und mich instruiert, zu sagen, sie müsse sich einfach ausruhen und werde ihn anrufen oder mich darum bitten, falls es ihr schlechter gehen sollte. Sie soll gut auf sich aufpassen, sagte er und bedankte sich bei mir für den Anruf und dafür, dass ich Nina eine gute Freundin war. Und dann, als er schon angefangen hatte, sich zu verabschieden, fragte er mich, ob ich Lust hätte, am Samstag mit ihm zusammen zu Abend zu essen. Er sagte, er finde es langweilig, allein zu essen.
    Nina hatte auch das vorbedacht.
    »Wenn er dich bittet, morgen Abend mit ihm zu essen, warum sagst du nicht zu? Am Samstagabend gibt es immer etwas besonders Gutes.«
    Samstags war die Mensa geschlossen. Die Möglichkeit, Mr Purvis zu begegnen, beunruhigte und interessierte mich.
    »Soll ich wirklich? Wenn er mich fragt?«
    Also ging ich in unser Zimmer hoch, nachdem ich eingewilligt hatte, mit Mr Purvis zu dinieren – er hatte tatsächlich »dinieren« gesagt –, und fragte Nina, was ich anziehen sollte.
    »Warum sich jetzt den Kopf zerbrechen? Es ist doch erst morgen Abend?«
    Warum sich überhaupt den Kopf zerbrechen? Ich hatte nur ein gutes Kleid, eines aus türkisgrüner Kunstseide, das ich mir von einem Teil meines Stipendiums gekauft hatte, für meine Rede bei der Highschool-Abschlussfeier.
    »Außerdem kommt es gar nicht darauf an«, sagte Nina. »Er wird es sowieso nicht bemerken.«
     
    Mrs Winner kam mich abholen. Ihre Haare waren nicht weiß, sondern platinblond, eine Farbe, die meiner Überzeugung nach für ein hartes Herz, unmoralisches Verhalten und eine lange, holprige Fahrt durch die schmutzigen Seitengassen des Lebens stand. Trotzdem drückte ich auf den Griff der Beifahrertür, um mich neben sie zu setzen, weil ich dachte, es sei nur anständig und demokratisch, das zu tun. Sie stand neben mir und ließ mich kurz gewähren, dann öffnete sie mir energisch die hintere Tür.
    Ich hatte gedacht, Mr Purvis müsse in einer der klotzigen Villen nördlich der Stadt wohnen, die von weiten Wiesen und unbestellten Feldern umgeben waren. Wahrscheinlich hatten mich die Rennpferde darauf gebracht. Stattdessen fuhren wir ostwärts durch gutbürgerliche, aber nicht protzige Straßen, vorbei an Häusern aus Backsteinen oder im Tudorstil, in denen wegen der frühen Dunkelheit Licht brannte, aus ihren schneebedeckten Sträuchern blinkte schon die Weihnachtsbeleuchtung. Wir bogen in eine schmale Auffahrt zwischen hohen Hecken und hielten vor einem Haus, das ich als »moderne Architektur« erkannte, weil es ein Flachdach und eine breite Fensterfront hatte und aus Beton zu bestehen schien. Hier gab es keine Weihnachtsbeleuchtung, überhaupt keine Beleuchtung.
    Von Mr Purvis war auch nichts zu sehen. Das Auto glitt in einen dunklen Keller, wir fuhren in einem Fahrstuhl einen Stock hoch und gelangten in eine Diele, die nur spärlich beleuchtet und wie ein Wohnzimmer eingerichtet war, mit harten Sesseln, blanken Tischchen, Spiegeln und Teppichen. Mrs Winner winkte mich voran durch eine der Türen, die von der Diele abgingen, in ein fensterloses Zimmer mit einer Bank und ringsum an den Wänden Haken. Es war wie ein Schulumkleideraum, allerdings mit Politur auf dem Holz und mit

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