Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Teppichfußboden.
»Hier lassen Sie Ihre Sachen«, sagte Mrs Winner.
Ich zog die Galoschen aus, stopfte meine Handschuhe in die Manteltaschen und hängte meinen Mantel auf. Mrs Winner blieb bei mir. Vermutlich musste sie das, um mir den weiteren Weg zu weisen. In meiner Tasche steckte ein Kamm, und ich wollte meine Haare richten, aber nicht, solange sie zuschaute. Außerdem sah ich keinen Spiegel.
»Jetzt den Rest.«
Sie blickte mich an, um zu sehen, ob ich verstand, und als ich es anscheinend nicht tat (obwohl gewissermaßen schon, ich verstand, hoffte aber, mich geirrt zu haben), sagte sie: »Keine Angst, Sie werden nicht frieren. Das ganze Haus ist gut geheizt.«
Ich regte mich noch nicht, um zu gehorchen, und sie sprach beiläufig, als sei ihr Verachtung zu mühsam.
»Ich hoffe, Sie sind kein kleines Kind mehr.«
Ich hätte in dem Stadium meinen Mantel nehmen können. Ich hätte verlangen können, in mein Fremdenheim zurückgefahren zu werden. Wenn mir das verweigert worden wäre, hätte ich allein nach Hause laufen können. Ich wusste noch, welchen Weg wir genommen hatten, und ich hätte zwar gefroren, aber noch nicht mal eine Stunde gebraucht.
Ich glaube nicht, dass die Haustür abgeschlossen war oder dass man mich gewaltsam zurückgehalten hätte.
»Ach, nein«, sagte Mrs Winner, als ich mich immer noch nicht regte. »Meinen Sie, Sie sind anders gebaut als wir alle? Meinen Sie, ich hätte alles, was Sie haben, noch nie gesehen?«
Es war zum Teil ihre Verachtung, die mich zum Bleiben veranlasste. Zum Teil. Die und mein Stolz.
Ich setzte mich hin. Ich zog die Schuhe aus. Ich löste die Strümpfe und krempelte sie hinunter. Ich stand auf, öffnete den Reißverschluss und zog mir dann das Kleid vom Leib, in dem ich die Abschiedsrede gehalten hatte, mit den lateinischen Schlussworten
ave atque vale
.
Immer noch halbwegs bedeckt durch meinen Unterrock langte ich nach hinten und hakte meinen Büstenhalter auf, schlüpfte irgendwie mit den Armen heraus und drehte das Ding nach vorn, so dass ich es mit einer Bewegung abstreifen konnte. Als Nächstes kam mein Hüfthalter, dann mein Schlüpfer – den ich zusammenknüllte und unter dem Büstenhalter verbarg. Ich steckte die Füße wieder in die Schuhe.
»Mit nackten Füßen«, sagte Mrs Winner seufzend. Anscheinend war es ihr zu lästig, auch noch den Unterrock zu erwähnen, aber nachdem ich die Schuhe wieder ausgezogen hatte, sagte sie: »Nackt. Wissen Sie, was das Wort bedeutet? Nackt.«
Ich zog den Unterrock über den Kopf, und sie gab mir eine Flasche Körperlotion mit den Worten: »Reiben Sie sich damit ein.«
Die Lotion roch wie Nina. Ich rieb mir etwas davon auf die Arme und die Schultern, das Einzige an meinem Körper, das ich anfassen konnte, solange Mrs Winner neben mir stand und zusah, dann ging ich in die Diele zurück, wobei ich es vermied, in die Spiegel zu schauen, Mrs Winner öffnete eine weitere Tür, und in das nächste Zimmer ging ich allein.
Es war mir nie in den Sinn gekommen, Mr Purvis könnte mich in demselben nackten Zustand erwarten, und er tat es auch nicht. Er war mit einem dunkelblauen Blazer, einem weißen Hemd, einem Ascot-Schal (ich wusste damals nicht, dass er so hieß) und einer grauen Flanellhose bekleidet. Er war kaum größer als ich, dünn und alt, fast kahl und mit Runzeln auf der Stirn, wenn er lächelte.
Es war mir auch nicht in den Sinn gekommen, dass die Entkleidung ein Vorspiel für eine Vergewaltigung oder für irgendeine andere Zeremonie als das Abendessen sein könnte. (Und offenbar war sie es auch nicht, nach den appetitlichen Gerüchen in dem Zimmer und den mit silbernen Hauben bedeckten Gerichten auf dem Büfett zu urteilen.) Warum hatte ich an so etwas überhaupt nicht gedacht? Warum hatte ich keinen Verdacht geschöpft? Es hatte etwas mit meiner Vorstellung von alten Männern zu tun. Ich dachte, sie seien nicht nur unfähig, sondern auch zu verbraucht, durch ihre diversen Schicksalsprüfungen und Erfahrungen und angesichts ihres eigenen abstoßenden körperlichen Verfalls zu würdevoll oder zu deprimiert, um noch irgendein Interesse daran zu haben. Ich war nicht so dumm, zu denken, dass meine Unbekleidetheit nichts mit den sexuellen Verwendungsmöglichkeiten meines Körpers zu tun hatte, aber sie war für mich eher eine Mutprobe als eine Einleitung zu weiteren Übergriffen, und meine Einwilligung hatte mehr mit der Torheit des Stolzes zu tun, wie ich schon sagte, hatte mehr mit einer beklommenen
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