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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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welche man zur Schau stellte.«
    Die Nachspeise bestand aus Vanillecreme und Schlagsahne mit Kuchenstückchen und Himbeeren darin. Er aß nur ein paar Häppchen davon. Aber nachdem ich zu gehemmt gewesen war, um den ersten Gang zu genießen, war ich entschlossen, nichts zu verpassen, was sahnig und süß war, und genoss andächtig jeden Löffelvoll.
    Er schenkte Kaffee in kleine Tassen und sagte, wir würden ihn in der Bibliothek trinken.
    Meine Pobacken machten ein schmatzendes Geräusch, als ich mich vom glatten Bezug des Esszimmerstuhls löste. Aber das wurde fast verdeckt vom Geklapper der zierlichen Kaffeetassen auf dem Tablett in seinen zittrigen alten Händen.
    Bibliotheken in Privathäusern kannte ich nur aus Büchern. Diese wurde durch eine unsichtbare Tür in der getäfelten Esszimmerwand betreten. Sie öffnete sich geräuschlos, nachdem er sie leicht mit dem Fuß berührt hatte. Er entschuldigte sich dafür, dass er vorausging, wie er es tun musste, da er den Kaffee trug. Für mich war das eine Erleichterung. Ich fand nämlich, dass unser Hinterteil – nicht nur meines, sondern das eines jeden – der scheußlichste Teil des Körpers ist.
    Als ich auf dem Stuhl saß, den er mir zugewiesen hatte, reichte er mir meinen Kaffee. Hier zu sitzen, sozusagen im Freien, war nicht so leicht wie am Esszimmertisch. Der Stuhl dort war mit glatter, gestreifter Seide bezogen, aber dieser hatte einen Bezug aus einem dunklen, plüschigen Stoff, der mich kitzelte. Eine intime Erregung stellte sich ein.
    Das Licht in diesem Zimmer war heller als im Esszimmer, und die Bücher an den Wänden hatten einen strengeren, vorwurfsvolleren Ausdruck als das Esszimmer mit seinen Landschaftsbildern und der lichtschluckenden Täfelung.
    Für einen Augenblick, als wir von einem Zimmer ins andere gingen, dachte ich an eine Geschichte – die Art von Geschichte, von der ich gehört hatte, aber die damals nur wenige zu lesen bekamen –, in der das Zimmer, das als Bibliothek bezeichnet wird, sich als Schlafzimmer herausstellt, mit gedämpftem Licht, bauschigen Kissen und allen möglichen Daunendecken. Ich hatte nicht die Zeit, mir zu überlegen, was ich unter solchen Umständen tun würde, denn das Zimmer, in das wir gelangten, war eindeutig nichts anderes als eine Bibliothek. Die Leselampen, die Bücher in den Regalen, der belebende Geruch von Kaffee. Mr Purvis nahm ein Buch aus dem Regal, blätterte darin und fand, was er suchte.
    »Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir etwas vorlesen würden. Meine Augen sind am Abend müde. Kennen Sie dieses Buch?«
    Ein Shropshire-Bub
.
    Ich kannte es, konnte sogar viele der Gedichte darin auswendig.
    Ich erklärte mich dazu bereit.
    »Und darf ich Sie bitten – darf ich Sie darum bitten –, nicht die Beine übereinanderzuschlagen?«
    Meine Hände zitterten, als ich das Buch entgegennahm.
    »Ja«, sagte er. »Ja.«
    Er wählte einen Stuhl vor dem Bücherregal, mir gegenüber.
    »So …«
    »Der Grat von Wenlock ist bedroht …«
    Vertraute Worte und Rhythmen beruhigten mich, ergriffen von mir Besitz. Nach und nach fühlte ich mich etwas geborgener.
    In seinem Wald herrscht blanke Not.
    Der Sturm zwingt junge Bäumchen nieder,
    Reißt auch die alten bald vom Thron.
    Kein Römer kehret hierhin wieder,
    Nur Asche bleibt von Uricon.
    Wo mag Uricon gewesen sein? Wer weiß?
    Nicht, dass ich völlig vergessen hatte, wo ich war oder bei wem oder in welchem Zustand ich dort saß. Aber mich überkam ein Gefühl von philosophischer Ferne. Die Vorstellung, dass jeder auf der Welt in gewisser Weise nackt war. Mr Purvis war nackt, obwohl er Kleidung trug. Wir waren alle elende, nackte, zweigeteilte Geschöpfe. Die Scham ließ nach. Ich wandte einfach die Seiten um und las ein Gedicht nach dem anderen vor. Und fand Gefallen an dem Klang meiner Stimme. Bis Mr Purvis mich zu meiner Überraschung, ja beinahe zu meiner Enttäuschung – denn es kamen noch berühmte Zeilen – unterbrach. Er erhob sich, er seufzte.
    »Genug, genug«, sagte er. »Das war sehr hübsch. Vielen Dank. Ihre ländliche Aussprache war recht passend. Jetzt ist für mich Schlafenszeit.«
    Ich ließ das Buch los. Er stellte es ins Regal zurück und schloss die Glastür davor. Die ländliche Aussprache war mir neu.
    »Und ich fürchte, es ist Zeit, Sie nach Hause zu schicken.«
    Er öffnete eine andere Tür, zur Diele, die ich vor so langer Zeit gesehen hatte, zu Beginn des Abends, ich ging an ihm vorbei, und die Tür

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