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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht. Wenn ich weggehen würde, würde sie mir folgen und sich da herumdrücken, wo ich gerade bin, und mir zurück folgen.«
    »Was, wenn sie einschläft?«
    »Die doch nicht. Oder wenn doch, und ich würde irgendwas unternehmen, dann wäre sie sofort hellwach.«
     
    Einfach, damit Mrs Winner ein bisschen in Übung blieb, wie Nina sagte, verließen wir eines Abends das Haus und nahmen den Bus zur Stadtbibliothek. Durchs Busfenster beobachteten wir, wie das lange schwarze Auto an jeder Bushaltestelle abbremsen und warten musste und dann wieder beschleunigte, um an uns dranzubleiben. Zur Bibliothek mussten wir ein Stück laufen, Mrs Winner überholte uns, hielt hinter dem Haupteingang und beobachtete uns – so meinten wir – im Rückspiegel.
    Ich wollte nachschauen, ob ich
Der scharlachrote Buchstabe
ausleihen konnte, ein Buch, das ich für einen meiner Kurse brauchte. Ich konnte mir nicht leisten, es zu kaufen, und in der College-Bibliothek waren alle Exemplare ausgeliehen. Außerdem wollte ich ein Buch für Nina heraussuchen – eines, das vereinfachte Geschichtstabellen enthielt.
    Nina hatte sich die Lehrbücher für die Kurse, an denen sie als Gasthörerin teilnahm, gekauft. Sie hatte sich Kolleghefte und Füller – die besten Füllfederhalter, die es zu jener Zeit gab – in den jeweils passenden Farben besorgt. Rot für Präkolumbianische Kulturen Mittelamerikas, blau für Romantische Dichter, grün für Viktorianische Romanschriftsteller und gelb für Märchen von Perrault bis Andersen. Sie besuchte regelmäßig jeden dieser Kurse und setzte sich in die letzte Reihe, weil sie dachte, dies sei der für sie angemessene Platz. Sie berichtete davon, als mache es ihr Spaß, durch das Fakultätsgebäude im Gewimmel der Studenten zu gehen, ihren Platz einzunehmen, das Lehrbuch an der vorgegebenen Seite aufzuschlagen und ihren Füller zur Hand zu nehmen. Aber ihre Kolleghefte blieben leer.
    Das Problem war meiner Ansicht nach, dass ihr die Haken fehlten, an denen sie etwas aufhängen konnte. Sie hatte keine Ahnung, was viktorianisch oder romantisch oder präkolumbianisch bedeutete. Sie war in Japan und auf Barbados und in vielen Ländern Europas gewesen, aber sie hätte keines dieser Länder auf der Landkarte finden können. Sie hätte nicht sagen können, ob die Französische Revolution vor oder nach dem Ersten Weltkrieg kam.
    Ich fragte mich, wie diese Kurse für sie ausgesucht worden waren. Hatte ihr der Klang der Titel gefallen, hatte Mr Purvis gedacht, sie könne sie meistern, oder hatte er sie voller Zynismus ausgesucht, damit sie bald genug davon hatte, Studentin zu sein?
    Als ich mich nach dem Buch umsah, das ich haben wollte, erblickte ich Ernie Potts. Er trug einen Stapel Krimis, die er für eine alte Freundin seiner Mutter abholte. Er hatte mir erzählt, dass er das regelmäßig tat, ebenso wie er immer am Samstagvormittag mit einem alten Freund seines Vaters draußen im Heim der Kriegsveteranen Schach spielte.
    Ich machte ihn mit Nina bekannt. Ich hatte ihm davon erzählt, dass sie eingezogen war, aber natürlich nichts über ihr früheres Leben oder auch nur ihr gegenwärtiges.
    Er gab Nina die Hand und sagte, er freue sich, sie kennenzulernen, und fragte sofort, ob er uns nach Hause fahren könne.
    Ich wollte schon sagen, nein danke, wir würden mit dem Bus fahren, doch Nina fragte ihn, wo sein Auto stehe.
    »Hinterm Haus«, sagte er.
    »Gibt es eine Hintertür?«
    »Ja, ja. Es ist eine Limousine.«
    »Nein, das meinte ich nicht«, sagte Nina freundlich. »Ich meinte, in der Bibliothek. In dem Gebäude.«
    »Ja. Ja, natürlich«, sagte Ernie verlegen. »Tut mir leid, ich dachte, Sie meinten das Auto. Eine Hintertür in der Bibliothek. Ja. So bin ich selbst hereingekommen. Tut mir leid.« Er bekam einen roten Kopf und hätte sich noch weiter entschuldigt, wenn Nina ihn nicht mit einem netten, sogar schmeichelhaften Lachen unterbrochen hätte.
    »Dann ist doch gut«, sagte sie. »Wir können durch die Hintertür hinausgehen. Also abgemacht. Danke.«
    Ernie fuhr uns nach Hause. Er fragte, ob wir einen kleinen Umweg zu seiner Wohnung machen wollten, auf eine Tasse Kaffee oder eine heiße Schokolade.
    »Tut uns leid, wir haben es ein bisschen eilig«, sagte Nina. »Aber danke für die Einladung.«
    »Ich nehme an, ihr habt Hausaufgaben.«
    »Hausaufgaben, ja«, sagte sie. »Und ob.«
    Ich musste daran denken, dass er mich noch nie in sein Haus gebeten hatte. Anstand. Ein Mädchen, nein. Zwei

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