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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Stellung, kauerte sich hin, statt flach auf dem Bauch zu liegen, und mit der ganzen Kraft ihrer Schultern, wobei Alex Kents Körper von hinten schob, gelang es ihr, ihn über den Rand zu ziehen. Sally fiel mit dem Jungen in den Armen auf den Rücken und sah, wie er kurz die Augen aufschlug und sie verdrehte, als er wieder in Ohnmacht fiel.
    Als Alex sich hochgekämpft hatte, holten sie die anderen Kinder und fuhren ins Collingwood-Krankenhaus. Es schien keine inneren Verletzungen zu geben. Beide Beine waren gebrochen. Der eine Bruch war sauber, wie der Arzt es ausdrückte; das andere Bein war gesplittert.
    »Kinder darf man da drin keine Minute lang aus den Augen lassen«, sagte er zu Sally, die mit Kent hineingegangen war, während Alex sich um die anderen Kinder kümmerte. »Sind denn da keine Warnschilder?«
    Mit Alex, dachte sie, hätte er anders geredet. So sind Jungs nun mal. Kaum kehrt man ihnen den Rücken zu, schon flitzen sie da herum, wo sie’s nicht dürfen. »Sind eben Lausebengel.«
    Ihre Dankbarkeit – gegenüber Gott, an den sie nicht glaubte, und Alex, an den sie glaubte – war so grenzenlos, dass sie nichts übelnahm.
     
    Kent konnte ein halbes Jahr lang nicht zur Schule gehen und verbrachte die erste Zeit festgezurrt in einem gemieteten Krankenhausbett. Sally holte in der Schule die Aufgaben für ihn ab, die er in kürzester Zeit erledigte. Dann wurde er dazu ermutigt, sich an Sonderprojekte zu wagen. Eines davon hieß »Forschungsreisen – wähle Dein Land«.
    »Ich möchte eins, das sich keiner sonst aussucht«, sagte er.
    Daraufhin erzählte Sally ihm etwas, was sie noch keiner Menschenseele gestanden hatte. Nämlich, dass sie sich zu fernen Inseln hingezogen fühlte. Nicht zu den Hawaii-Inseln oder den Kanaren oder den Hebriden oder den griechischen Inseln, wo alle hin wollten, sondern zu kleinen oder unbekannten Inseln, von denen niemand sprach und zu denen kaum jemand je hinfuhr. Ascension, Tristan da Cunha, die Chatham-Inseln, die Weihnachtsinsel, die Isla Desolación, die Färöer. Sie und Kent begannen, sämtliche Informationsschnipsel zu sammeln, die sie darüber auftreiben konnten, und gestatteten sich nicht, irgendetwas zu erfinden. Und erzählten Alex kein Wort davon.
    »Der würde doch denken, wir haben sie nicht mehr alle«, sagte Sally.
    Der ganze Stolz der Isla Desolación war ein Gemüse, das aus uralten Zeiten stammte, ein einzigartiger Kohl. Sie stellten sich Feierlichkeiten ihm zu Ehren vor, Kostüme, Kohlparaden.
    Und vor seiner Geburt, erzählte Sally ihrem Sohn, hatte sie im Fernsehen gesehen, wie die Bewohner von Tristan da Cunha auf dem Flughafen Heathrow landeten, nachdem sie alle wegen eines schweren Erdbebens auf ihrer Insel evakuiert worden waren. Wie sonderbar sie aussahen, fügsam und würdevoll, wie Menschen aus einem anderen Jahrhundert. Sie hatten sich anscheinend in London mehr oder weniger angepasst, aber als der Vulkan sich beruhigt hatte, wollten sie wieder nach Hause.
    Als Kent wieder zur Schule gehen konnte, wurde natürlich vieles anders, aber er wirkte immer noch seinem Alter voraus, geduldig mit Savanna, die abenteuerlustig und dickköpfig geworden war, und mit Peter, der immer ins Haus platzte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Und er war besonders höflich zu seinem Vater, brachte ihm die Zeitung, die er Savanna entrissen und sorgfältig wieder zusammengefaltet hatte, rückte zum Abendessen seinen Stuhl vor.
    »Ehre dem Manne, der mir das Leben gerettet hat,« sagte er dann oder: »Der Held ist heimgekehrt.«
    Er sagte das recht dramatisch, dabei überhaupt nicht sarkastisch. Trotzdem fiel es Alex auf die Nerven. Kent fiel ihm auf die Nerven, hatte es schon vor dem Tiefloch-Drama getan.
    »Hör auf damit«, sagte er und beschwerte sich insgeheim bei Sally.
    »Er sagt damit, dass du ihn lieben musst, weil du ihn gerettet hast.«
    »Mein Gott, ich hätte jeden gerettet.«
    »Sag das nicht, wenn er dabei ist. Bitte.«
     
    Als Kent auf die Highschool kam, verbesserte sich das Verhältnis zu seinem Vater. Er entschied sich, Naturwissenschaften zu studieren. Er wählte die harten Wissenschaften, nicht die weichen Geowissenschaften, und sogar das weckte bei Alex keinen Widerspruch. Je härter, desto besser.
    Aber nach sechs Monaten auf dem College verschwand Kent. Studenten, die ihn ein wenig kannten – es gab offenbar niemanden, der behauptete, ein Freund von ihm zu sein –, sagten, dass er davon gesprochen habe, an die Westküste zu gehen.

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