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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Und ein Brief kam, gerade als seine Eltern zur Polizei gehen wollten. Er arbeitete in einem Autoreifenladen in einem nördlichen Vorort von Toronto. Alex fuhr ihn dort besuchen, um ihn ans College zurückzubeordern. Aber Kent weigerte sich, sagte, er sei sehr glücklich mit der Arbeit, die er jetzt habe, und verdiene gutes Geld oder werde es bald, da er befördert worden sei. Dann fuhr Sally ihn besuchen, ohne Alex etwas davon zu sagen, und fand ihn fröhlich und zehn Pfund schwerer vor. Er sagte, das sei vom Bier. Er hatte jetzt Freunde.
    »Das ist eine Phase«, sagte sie zu Alex, als sie ihm den Besuch gestand. »Er will mal die Unabhängigkeit kosten.«
    »Von mir aus kann er sich damit den Bauch vollschlagen.«
    Kent hatte ihr nicht gesagt, wo er wohnte, aber das spielte keine Rolle, denn als sie ihn das nächste Mal besuchte, hieß es, dass er längst gekündigt hatte. Sie war verlegen – sie meinte, ein Grinsen auf dem Gesicht des Angestellten wahrzunehmen, der ihr das sagte – und fragte nicht, wohin Kent gegangen sei. Sie dachte ohnehin, er werde sich mit ihr in Verbindung setzen, sobald er sich wieder irgendwo niedergelassen hatte.
     
    Das tat er auch, drei Jahre später. Sein Brief war in Needles in Kalifornien aufgegeben worden, aber er schrieb ihnen, sie sollten gar nicht erst versuchen, ihn da aufzuspüren – er sei nur auf der Durchreise. Wie Blanche, schrieb er, und Alex fragte: Wer ist diese verflixte Blanche?
    »Nur ein Witz«, sagte Sally. »Unwichtig.«
    Kent schrieb nicht, was er gerade tat oder wo er gewesen war oder ob er irgendwelche Beziehungen eingegangen war. Er entschuldigte sich nicht dafür, dass er sich so lange nicht gemeldet hatte, fragte auch nicht, wie es ihnen oder seinem Bruder und seiner Schwester ging. Sondern schrieb seitenweise von seinem eigenen Leben. Nicht von dessen praktischer Seite, sondern davon, was er seiner Überzeugung nach damit anfangen sollte – damit anfing.
    »Es kommt mir so lächerlich vor«, schrieb er, »dass von einem Menschen erwartet wird, sich in eine Uniform einzusperren. Ich meine damit so was wie die Uniform eines Ingenieurs oder eines Arztes oder eines Geologen, und dann wächst Haut darüber, über die Uniform, meine ich, und dieser Mensch kann sie nie wieder ausziehen. Während wir die Chance bekommen, die ganze Welt der inneren und äußeren Wirklichkeit zu erkunden und in einer Weise zu leben, die das Geistige und das Körperliche einschließt und die ganze Bandbreite des Schönen und des Schrecklichen, die der Menschheit zugänglich ist, also Schmerz ebenso wie Freude und Aufruhr. Diese Art, mich auszudrücken, mag euch hochtrabend vorkommen, aber wenn ich eines gelernt habe, dann ist es, den intellektuellen Hochmut aufzugeben …«
     
    »Er nimmt Drogen«, sagte Alex. »Das ist mal klar. Sein Hirn ist von Drogen zerfressen.«
    Mitten in der Nacht sagte er: »Sex.«
    Sally lag hellwach neben ihm.
    »Was ist damit?«
    »Sex bringt dich in den Zustand, von dem er redet. Ein Irgendwas werden, damit du den Lebensunterhalt verdienen kannst. Damit du deinen ständigen Sex und die Folgen bezahlen kannst. Das kommt für ihn nicht in Frage.«
    Sally sagte: »Meine Güte, wie romantisch.«
    »Sich auf die Hauptsachen zu besinnen ist nie sehr romantisch. Er ist nicht normal, will ich damit nur sagen.«
    In dem Brief – oder dem Koller, wie Alex ihn nannte – schrieb Kent auch, dass er vielleicht mehr Glück als die meisten Menschen gehabt hatte, weil ihm das, was er seine Nahtod-Erfahrung nannte, zuteil geworden war, die ihm vielleicht ein besonderes Bewusstsein gegeben hatte, und dafür musste er seinem Vater, der ihn in diese Welt zurückgeholt hatte, und seiner Mutter, die ihn dort liebevoll aufgenommen hatte, für immer dankbar sein.
    »Vielleicht wurde ich in diesen Augenblicken wiedergeboren.«
    Alex hatte gestöhnt.
    »Nein. Ich sag’s lieber nicht.«
    »Bitte nicht«, sagte Sally. »Denn das ist nicht dein Ernst.«
    »Ich weiß nicht, ob es mein Ernst ist oder nicht.«
    Dieser Brief, unterschrieben mit »Alles Liebe«, war das Letzte, was sie von ihm hörten.
     
    Peter studierte Medizin, Savanna Jura.
    Sally begann zu ihrer eigenen Überraschung, sich für Geologie zu interessieren. Einmal, in zutraulicher Stimmung nach dem Sex, erzählte sie Alex von den Inseln – wenn auch nicht von ihrer fixen Idee, dass Kent jetzt auf irgendeiner davon lebte. Sie sagte, dass sie viele Einzelheiten inzwischen vergessen hatte und alles wieder

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