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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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und die Haut um sie herum war dunkel und faltig. Er kniff die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten, dann redete er weiter, mit einer Miene, als versuche er, alle Seiten zu sehen, alles zu verstehen.
    »Sie konnte ihren alten Onkel nicht verlassen«, sagte er. »Sie hat es nicht über sich gebracht, ihn im Stich zu lassen. Ich habe ihr gesagt, wir können ihn doch zu uns nehmen, denn ich bin ja alte Leute um mich gewohnt, aber sie sagte, sie will lieber mit allem brechen. Nun hat sie es wohl doch nicht über sich gebracht.«
    »Besser, man erwartet nicht zu viel. Manches sollen wir eben einfach nicht haben.«
    Als ich auf meinem Weg zur Toilette an den Mänteln vorbeikam, nahm ich das Unterhemd aus der Tasche. Ich stopfte es in den Behälter für die benutzten Handtücher.
     
    An jenem Tag in der Bibliothek war ich unfähig, mit Sir Gawain fortzufahren. Ich riss eine Seite aus meinem Kollegheft, nahm meinen Stift und ging hinaus. Vor der Bibliothek war ein öffentlicher Fernsprecher, und daneben hing ein Telefonbuch. Ich blätterte darin und schrieb mir auf dem mitgebrachten Blatt zwei Nummern auf. Es waren keine Telefonnummern, sondern Hausnummern.
    Henfryn Street 1648 .
    Die andere Nummer, der ich mich nur vergewissern wollte, da ich sie erst kürzlich und früher auf den Umschlägen von Weihnachtskarten gesehen hatte, war Carlisle Street 363 .
    Ich ging durch den Tunnel zurück in die Philosophische Fakultät und betrat den kleinen Laden gegenüber vom Dozentenzimmer. Ich hatte genug Kleingeld in der Tasche, um einen Umschlag und eine Briefmarke zu kaufen. Ich riss das Stück von dem Blatt Papier ab, auf dem die Carlisle-Street-Adresse stand, und steckte es in den Briefumschlag. Ich klebte den Umschlag zu und schrieb darauf den Namen von Mr Purvis und die Adresse in der Henfryn Street. Alles in Blockbuchstaben. Dann leckte ich die Briefmarke an und klebte sie auf. Zu jener Zeit muss es wohl eine Vier-Cent-Marke gewesen sein.
    Direkt vor dem Laden war ein Briefkasten. Ich steckte den Umschlag ein, dort im unteren Flur der Philosophischen Fakultät, wo viele an mir vorbeigingen, auf dem Weg zu Kursen oder zu einer Zigarettenpause oder vielleicht zu einem Spiel Bridge im Dozentenzimmer. Auf dem Weg zu Taten, deren sie sich bisher nicht für fähig gehalten hätten.

Tieflöcher
    Sally packte gefüllte Eier ein – die sie höchst ungern auf ein Picknick mitnahm, da sie leicht zu einer Ferkelei wurden. Schinkensandwiches, Krabbensalat, Zitronentörtchen – auch ein Verpackungsproblem. Limo für die Kinder, eine Piccolo Mumm für sich und Alex. Sie durfte nur einen Schluck trinken, weil sie immer noch stillte. Sie hatte extra Sektgläser aus Plastik gekauft, aber als Alex die in ihren Händen sah, holte er die richtigen – ein Hochzeitsgeschenk – aus der Vitrine. Sie protestierte, aber er bestand darauf und übernahm es selbst, sie einzuwickeln und zu verstauen.
    »Paps ist eigentlich so was wie ein
bourgeois gentilhomme
«, sollte Kent einige Jahre später zu Sally sagen, als er in der Highschool in allen Fächern glänzte und seine wissenschaftliche Laufbahn so klar war, dass er es sich leisten konnte, zu Hause mit französischen Ausdrücken um sich zu werfen.
    »Mach dich nicht über deinen Vater lustig«, sagte Sally mechanisch.
    »Tu ich nicht. Aber die meisten Geologen sehen doch ewig schmuddelig aus.«
     
    Mit dem Picknick wollten sie den ersten Artikel von Alex in der
Zeitschrift für Geomorphologie
feiern. Sie fuhren zum Osler-Hochplateau, weil das in seinem Artikel eine große Rolle spielte und weil Sally und die Kinder noch nie dort gewesen waren.
    Sie legten zwei Meilen auf einem holprigen Fahrweg zurück – nachdem sie von einem ebenfalls unbefestigten, aber vernünftigen Weg abgebogen waren – und gelangten zu einem Parkplatz, auf dem gerade niemand sonst parkte. Das Schild war aus Holz, grob beschriftet und halb verwittert.
    VORSICHT . TIEFLÖCHER .
    Warum nicht »tiefe Löcher«?, dachte Sally. Aber was soll’s?
    Der Weg in den Wald sah ganz normal und unbedrohlich aus. Sally wusste natürlich, dass sich dieser Wald auf einem Hochplateau befand, und sie erwartete irgendwo eine phänomenale Aussicht. Jedenfalls nicht das, was bald danach umgangen werden musste.
    Tiefe Kammern eigentlich, manche groß wie ein Sarg, manche wesentlich größer, wie in den Fels geschnittene Zimmer. Mit Fluren, die im Zickzack dazwischen verliefen und aus deren Wänden Farne und Moose sprossen. Jedoch

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