Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
in dem Konversationslexikon nachschlagen müsste, aus dem sie sich das angelesen hatte. Alex sagte, dass alles, was sie wissen wollte, wahrscheinlich im Internet zu finden sei. Bestimmt nichts so Entlegenes, sagte sie, woraufhin er sie aus dem Bett und hinunter ins Erdgeschoss holte, und dort tauchte in null Komma nichts Tristan da Cunha vor ihren Augen auf, ein grüner Teller im Südatlantik, und dazu Informationen ohne Ende. Sie war entsetzt und wandte sich ab, und Alex, der von ihrem Verhalten natürlich enttäuscht war, fragte sie, warum.
»Ich weiß nicht. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich die Insel jetzt verloren.«
Er sagte, das sei alles Quatsch, sie brauche etwas Richtiges zu tun. Er war zu der Zeit gerade emeritiert und plante, ein Buch zu schreiben. Er brauchte einen Assistenten und konnte nicht auf die studentischen Hilfskräfte zurückgreifen wie früher. (Sie wusste nicht, ob das stimmte oder nicht.) Sie erinnerte ihn daran, dass sie von Gesteinen keine Ahnung hatte, und er sagte, das mache nichts, er könne sie für den Maßstab brauchen, auf den Fotos.
So wurde sie die kleine Gestalt in schwarzer oder heller Kleidung, die sich von den Bändern aus silurischem oder devonischem Gestein abhob. Oder von dem Gneis, der unter ungeheurem Druck entstanden war, gefaltet und verformt von Zusammenstößen der amerikanischen und pazifischen Platte, um den gegenwärtigen Kontinent zu bilden. Allmählich lernte sie ihre Augen zu benutzen und ihr neues Wissen anzuwenden, bis sie auf einer leeren Vorortstraße stehen und sich klarmachen konnte, dass tief unter ihren Füßen ein mit Geröll gefüllter Krater lag, der nie zu sehen sein würde und noch nie gesehen worden war, weil bei seiner Entstehung keine Augen da waren, auch nicht während des langen Zeitraums, in dem er sich bildete, sich füllte und unter der Oberfläche verschwand. Alex erwies solchen Dingen die Ehre, sie so genau wie möglich zu wissen, und Sally bewunderte ihn dafür, obwohl sie klug genug war, ihm das nicht zu sagen. Sie waren gute Freunde in diesen letzten Jahren, von denen sie nicht wusste, dass es die letzten waren, auch wenn es ihm vielleicht bewusst war. Er ging wegen einer Operation ins Krankenhaus, wobei er seine Tabellen und Fotos mitnahm, und an dem Tag, an dem er nach Hause kommen sollte, starb er.
Das geschah im Sommer, und im Herbst darauf brach in Toronto eine schreckliche Feuersbrunst aus. Sally saß vor ihrem Fernseher und sah sich eine Weile das Feuer an. Es brannte in einem Viertel, das sie kannte oder gekannt hatte, zu jener Zeit, als es von Hippies mit ihren Tarotkarten und Holzperlen und Papierblumen, groß wie Kürbisse, bewohnt wurde. Und noch eine Zeitlang danach, als die vegetarischen Restaurants in teure Bistros und Boutiquen verwandelt wurden. Nun wurde ein Block dieser Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert ausradiert, und der Reporter beklagte dies, sprach von den Menschen, die in altmodischen Wohnungen über den Läden gelebt hatten und jetzt ihr Zuhause verloren und aus dem Inferno auf die Straße gezerrt wurden.
Aber kein Wort über die Besitzer dieser Häuser und die Zustände darin, dachte Sally, mit denen sie jetzt wahrscheinlich davonkamen, mit den schadhaften elektrischen Leitungen und den Horden von Kakerlaken und Bettwanzen, über die sich die verarmten und verängstigten Mieter nicht zu beschweren wagten.
In letzter Zeit meinte sie manchmal, Alex in ihrem Kopf reden zu hören, und zweifellos war das gerade der Fall. Sie schaltete das Feuer aus.
Keine zehn Minuten später klingelte das Telefon. Es war Savanna.
»Mom. Ist dein Fernseher an? Hast du’s gesehen?«
»Du meinst das Feuer? Er war an, aber ich hab ihn ausgeschaltet.«
»Nein. Hast du gesehen – ich suche ihn gerade – ich hab ihn vor noch nicht mal fünf Minuten gesehen. Mom, es ist Kent. Jetzt kann ich ihn nicht finden. Aber ich hab ihn gesehen.«
»Ist er verletzt? Ich mach rasch den Apparat an. War er verletzt?«
»Nein, er hat geholfen. Er trug das eine Ende einer Bahre, es lag jemand drauf, ich weiß nicht, ob es ein Toter oder nur ein Verletzter war. Aber Kent. Es war Kent. Man konnte sogar sehen, dass er hinkte. Ist er jetzt an?«
»Ja.«
»Ich beruhige mich ja schon. Ich wette, er ist in das Haus zurückgegangen.«
»Aber das würden sie doch gar nicht erlauben …«
»Vielleicht ist er Arzt, was wissen wir schon. Mist, jetzt bringen sie wieder den alten Mann, mit dem sie schon geredet haben, seiner Familie
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