Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
gehörte seit hundert Jahren ein Geschäft – komm, wir legen auf und schauen genau hin. Er kommt bestimmt wieder ins Bild.«
Er tat es nicht. Die Aufnahmen wiederholten sich.
Savanna rief wieder an.
»Ich werde dem auf den Grund gehen. Ich kenne jemanden in der Nachrichtenredaktion. Ich kann mir diese Aufnahme noch mal zeigen lassen, wir müssen das herausfinden.«
Savanna hatte ihren Bruder gar nicht gut gekannt – warum jetzt diese Aufregung? Hatte sie durch den Tod ihres Vaters das Gefühl, eine Familie zu brauchen? Sie sollte heiraten, bald; sie sollte Kinder kriegen. Aber sie konnte ungeheuer hartnäckig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte – war es möglich, dass sie Kent ausfindig machte? Als sie ungefähr zehn Jahre alt war, hatte ihr Vater zu ihr gesagt, sie könne eine Idee bis auf den Knochen abnagen, sie müsse Rechtsanwältin werden. Und von da an hatte für sie festgestanden, was sie werden würde.
Sally wurde von einem Zittern ergriffen, von einer Sehnsucht, einer Mattigkeit.
Es war tatsächlich Kent, und innerhalb von einer Woche hatte Savanna alles über ihn herausgefunden. Nein. Ändern: alles, was er ihr erzählen wollte. Er hatte seit Jahren in Toronto gelebt. Er war oft an dem Gebäude vorbeigegangen, in dem Savanna arbeitete, und hatte sie ein paar Mal auf der Straße gesehen. Einmal standen sie sich an einer Kreuzung fast gegenüber. Natürlich hätte sie ihn nicht erkannt, weil er eine Art Ordenstracht trug.
»Ein Hare Krishna?«, fragte Sally.
»Ach, Mom, wenn einer Mönch ist, dann heißt das nicht, dass er ein Hare Krishna ist. Jedenfalls jetzt ist er das nicht.«
»Was ist er denn?«
»Er sagt, er lebt in der Gegenwart. Ich hab gesagt, tun wir das nicht alle heutzutage, und er sagte, nein, er meine die wahre Gegenwart.«
Wo sie jetzt waren, hatte er gesagt, und Savanna hatte gefragt: »Meinst du, in dieser Spelunke?« Denn der Coffeeshop, in dem er sich mit ihr verabredet hatte, war eine Spelunke.
»Ich sehe das anders«, sagte er, fügte aber hinzu, dass er nichts gegen ihre Sichtweise oder irgendeine andere hatte.
»Wie großzügig von dir«, sagte Savanna, aber sie machte einen Witz daraus, und er lachte gequält.
Er sagte, dass er Alex’ Todesanzeige in der Zeitung gesehen und gut gefunden habe. Die geologischen Anspielungen hätten Alex bestimmt gefallen. Würde er als trauernder Angehöriger aufgeführt sein, hatte er sich gefragt, und war dann ganz erstaunt, auch seinen Namen zu lesen. Hatte sein Vater vor seinem Tod verfügt, welche Namen dort stehen sollten?
Nein, sagte Savanna, denn er hatte nicht vorgehabt, so früh zu sterben. Die Familie hatte sich zusammengesetzt und beschlossen, dass auch Kents Name da stehen sollte.
»Also nicht Dad«, sagte Kent. »Nein, natürlich nicht.«
Dann erkundigte er sich nach Sally.
Sally spürte, wie sich in ihrer Brust ein Ballon aufblies.
»Was hast du gesagt?«
»Ich hab gesagt, du bist ganz okay, vielleicht ein bisschen verloren, weil ihr beide euch so nahestandet und du noch nicht viel Zeit gehabt hast, dich ans Alleinsein zu gewöhnen. Sag ihr, sie kann mich besuchen kommen, wenn sie möchte, hat er mir aufgetragen, und ich hab versprochen, ich werd dich fragen.«
Sally gab keine Antwort.
»Bist du noch dran, Mom?«
»Hat er gesagt, wann oder wo?«
»Nein. Ich soll mich in einer Woche wieder da mit ihm treffen und es ihm sagen. Ich glaube, er genießt es, die Fäden zu ziehen. Ich dachte, du wärst sofort dazu bereit.«
»Natürlich bin ich dazu bereit.«
»Du hast keine Angst, allein in die Stadt zu kommen?«
»Sei nicht albern. Stimmt es, dass er der Mann war, den du bei dem Brand gesehen hast?«
»Er wollte weder ja noch nein sagen. Aber soweit ich weiß, ja. Nach meinen Informationen ist er in bestimmten Stadtvierteln und unter bestimmten Leuten ziemlich bekannt.«
Sally erhielt mit der Post eine Nachricht. Allein das war schon etwas Besonderes, da die meisten Leute, die sie kannte, E-Mails schickten oder das Telefon benutzten. Sie war froh, dass sie nicht ans Telefon musste. Sie wusste nicht, ob sie schon damit umgehen konnte, seine Stimme zu hören. Die Nachricht wies sie an, ihr Auto auf dem U-Bahn-Parkplatz an der Endstation abzustellen und dann mit der Bahn zu einer bestimmten Haltestelle zu fahren, wo er auf sie warten würde.
Sie rechnete damit, ihn auf der anderen Seite des Drehkreuzes zu sehen, aber er war nicht da. Wahrscheinlich wollte er draußen auf sie warten.
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