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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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fürchtete –, sondern eher ein böser Zauber, ein finsterer Wille. Einem kleinen Kind kann dieses Gefühl sogar von Hausfassaden oder Baumstämmen eingeflößt werden und ganz besonders von modrigen Kellern oder tiefen Wandschränken.
    Sie war ein ganzes Stück größer als ich und auch älter, um wie viel Jahre, weiß ich nicht genau – zwei oder drei? Sie war dünn, so schmal gebaut und mit so kleinem Kopf, dass ich an eine Schlange denken musste. Feine schwarze Haare lagen flach auf diesem Kopf und fielen ihr in die Stirn. Die Haut ihres Gesichts sah für mich so fahl aus wie der Stoff unseres alten Zeltes aus Segeltuch, und ihre Wangen waren ausgebeult wie Zeltwände im Wind. Ihre Augen waren ständig zusammengekniffen.
    Aber ich glaube, ihr Aussehen, so, wie andere es wahrnahmen, hatte nichts auffallend Unangenehmes. Meine Mutter sprach von ihr sogar als hübsch oder beinahe hübsch (wie in:
wirklich schade, sie könnte hübsch sein
). Es ließ sich auch nichts, soweit meine Mutter es beurteilen konnte, gegen ihr Benehmen einwenden.
Sie ist jung für ihr Alter
. Eine ausweichende und unzulängliche Ausdrucksweise dafür, dass Verna weder Lesen noch Schreiben noch Seilspringen oder Ballspielen gelernt hatte und dass ihre Stimme heiser und unmoduliert war, ihre Wörter seltsam auseinandergerissen, als seien es Sprachbrocken, die sich in ihrer Kehle verfangen hatten.
    Ihre Art, mich zu überfallen, meine einsamen Spiele zu stören, war die eines älteren, nicht eines jüngeren Mädchens. Aber eines älteren Mädchens, das keinerlei Fertigkeiten oder Rechte hatte, nichts als eine wilde Entschlossenheit und eine Unfähigkeit, zu verstehen, dass sie unerwünscht war.
    Kinder sind natürlich ungeheuer konventionell, sie werden sofort von allem abgestoßen, das von der Norm abweicht, nicht ganz im Lot, nicht zu bändigen ist. Und als Einzelkind war ich mächtig verwöhnt, bekam allerdings auch oft Schelte. Ich war gehemmt, altklug, ängstlich, hatte viele selbsterfundene Rituale und Abneigungen. So hasste ich die Zelluloidhaarspange, die ständig aus Vernas Haaren rutschte, und die rot oder grün gestreiften Pfefferminzbonbons, die sie mir immer wieder anbot. Sie tat sogar noch mehr, als sie nur anzubieten; wieder und wieder versuchte sie, mich zu fangen und mir diese Bonbons in den Mund zu stopfen, wobei sie die ganze Zeit über in ihrer stockenden Art kicherte. Bis heute habe ich eine Abneigung gegen Pfefferminzgeschmack. Und gegen den Namen Verna. Für mich klingt er nicht nach Frühling oder grünem Gras oder Blumengirlanden oder Mädchen in zarten Kleidern. Er klingt mehr nach einer Kolonne hartnäckiger Pfefferminzbonbons, nach grünem Schleim.
    Meine Mutter, so glaubte ich, mochte Verna eigentlich auch nicht. Aber aufgrund einer gewissen Scheinheiligkeit in ihrem Wesen, wie ich es sah, aufgrund einer Entscheidung, die sie offenbar getroffen hatte, um mich zu ärgern, gab sie vor, Verna tue ihr leid. Sie ermahnte mich, nett zu ihr zu sein. Anfangs sagte sie, Verna würde nicht lange bleiben und am Ende der Sommerferien dahin zurückkehren, von wo sie gekommen war. Dann, als klarwurde, dass Verna nirgendwohin zurückkehren konnte, wurde ich damit getröstet, dass wir selbst bald umziehen würden. Ich musste nur noch ein bisschen länger nett zu ihr sein. (Tatsächlich dauerte es ein ganzes Jahr, bis wir umzogen.) Schließlich ging ihr die Geduld aus und sie sagte, ich sei für sie eine Enttäuschung und sie habe nie gedacht, dass ich einen so schlechten Charakter hätte.
    »Wie kannst du es ihr zum Vorwurf machen, dass sie so auf die Welt gekommen ist? Was kann sie dafür?«
    Das ergab für mich keinen Sinn. Wenn ich geschulter im Argumentieren gewesen wäre, hätte ich vielleicht gesagt, dass ich Verna keinen Vorwurf machte, sie nur einfach nicht um mich haben wollte. Aber natürlich machte ich es ihr zum Vorwurf. Ich war nicht im Zweifel, dass sie irgendwie doch dafür konnte. Und darin, ganz egal, was meine Mutter sagte, war ich bis zu einem gewissen Grade im Einklang mit dem unausgesprochenen Urteil meiner Zeit und der Umgebung, in der ich lebte. Sogar Erwachsene lächelten auf ganz bestimmte Weise, und ich nahm eine ununterdrückbare Genugtuung und selbstverständliche Überlegenheit wahr, wenn sie über Menschen redeten, die »einfältig« waren oder »nicht alle Tassen im Schrank hatten«. Und ich glaubte, dass meine Mutter insgeheim auch so fühlte.
    Ich kam in die Schule. Verna kam in die Schule. Sie

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