Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
aufmachte. Charlene war kurz zurück in den Schlafsaal gelaufen, um Geld zu holen. Da sie reich war, mit einem Vater, der ein Bestattungsunternehmen hatte, war sie recht leichtsinnig und bewahrte ihr Geld im Kopfkissenbezug auf. Außer beim Baden hatte ich meins immer bei mir. Alle, die es sich irgendwie leisten konnten, gingen nach dem Mittagessen zum Süßwarenladen, um sich etwas zu holen gegen den scheußlichen Geschmack der Nachspeise im Mund, die wir hassten, aber immer wieder probierten, um festzustellen, ob sie so eklig war wie erwartet. Tapiokaspeise, breiige Bratäpfel, schleimiger Vanillepudding. Als ich Charlenes Gesichtsausdruck sah, dachte ich im ersten Augenblick, ihr Geld sei gestohlen worden. Aber dann dachte ich, solch ein Missgeschick hätte nicht bewirkt, dass sie so verwandelt war, der Schreck in ihrem Gesicht so freudig.
Verna? Wie konnte Verna hier sein? Bestimmt ein Irrtum.
Das muss an einem Freitag gewesen sein. Noch zwei Tage im Lager, zwei lange Tage. Und es stellte sich heraus, dass ein Kontingent von Sonderlingen – auch hier wurden sie so genannt – hergebracht worden war, damit sie mit uns das letzte Wochenende genießen konnten. Nicht sehr viele – vielleicht zwanzig insgesamt – und nicht alle aus meiner Stadt, sondern auch aus Städten in der Umgebung. Während Charlene noch versuchte, mir die Neuigkeit beizubringen, ertönte eine Trillerpfeife, und Betreuerin Arva war auf eine Bank gestiegen, um uns etwas zu verkünden.
Sie sagte, dass sie sicher sei, wir würden alle unser Bestes tun, um diese Besucher – diese neuen Lagerbewohner – willkommen zu heißen, und dass sie ihre eigenen Zelte und ihre eigene Betreuerin mitgebracht hätten. Aber sie würden mit uns zusammen essen und baden und an den Spielen und am Morgenplausch teilnehmen. Sie sei überzeugt, sagte sie mit dem gewohnten ermahnenden oder tadelnden Ton in der Stimme, dass wir alle diese Gelegenheit ergreifen würden, um neue Freundschaften zu schließen.
Es dauerte einige Zeit, bis die Zelte aufgebaut und die Neuankömmlinge mit ihrem Gepäck untergebracht waren. Einige von ihnen interessierte das überhaupt nicht, sie machten sich davon und mussten angeschrien und zurückgeholt werden. Da das unsere Freizeit, unsere Ruhestunde war, holten wir uns unsere Schokoriegel oder Lakritzschnecken oder Fondants vom Süßwarenladen und legten uns dann auf unsere Pritschen, um sie zu genießen.
Charlene sagte immer wieder: »Stell dir vor. Stell dir das vor. Sie ist hier. Ich kann’s nicht glauben. Meinst du, sie hat dich verfolgt?«
»Wahrscheinlich«, sagte ich.
»Meinst du, ich kann dich immer so verstecken?«
Als wir in der Schlange vor dem Süßwarenladen standen, hatte ich mich geduckt und Charlene vorgeschoben, während die Sonderlinge an uns vorbeigeführt wurden. Ich hatte kurz nach ihr gespäht und Verna von hinten erkannt. Ihren herabhängenden Schlangenkopf.
»Wir müssten uns was ausdenken, um dich zu verkleiden.«
Aus meinen Erzählungen schien Charlene den Eindruck gewonnen zu haben, dass Verna mich tätlich belästigt hatte. Und das hielt ich für wahr, nur dass die Belästigung subtiler, verborgener gewesen war, als ich hatte beschreiben können. Jetzt ließ ich Charlene in ihrem Glauben, weil es so wesentlich aufregender war.
Verna entdeckte mich nicht sofort, wegen der trickreichen Ausweichmanöver, die Charlene und ich vornahmen, und vielleicht auch, weil sie ziemlich benommen war, ganz wie die meisten Sonderlinge, die sich den Kopf darüber zerbrachen, was sie hier zu suchen hatten. Sie wurden bald zu ihrem Schwimmunterricht fortgebracht, ans andere Ende des Strandes.
Zum Mittagessen wurden sie hereingeführt, während wir sangen:
Je öfter wir zusammen sind, zusammen sind, zusammen sind,
Je öfter wir zusammen sind,
Desto schöner wird es sein.
Dann wurden sie getrennt und unter uns aufgeteilt. Sie trugen alle Namensschildchen. Mir gegenüber saß eine namens Mary Ellen Soundso, nicht aus meiner Stadt. Aber bevor ich Zeit hatte, mich darüber zu freuen, sah ich Verna am Nachbartisch, größer als alle um sie herum, aber Gott sei Dank auf derselben Seite wie ich, so dass sie mich während des Essens nicht sehen konnte.
Sie war die Größte von ihnen, wenn auch nicht so groß, nicht so auffällig, wie ich sie in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich im letzten Jahr ein ganzes Stück gewachsen war, während sie vielleicht ganz aufgehört hatte zu wachsen.
Nach dem
Weitere Kostenlose Bücher