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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sich so gehört. Nicht, dass ihre Szenen verschwänden, aber sie werden belanglos. Dann gibt es plötzlich eine Rückblende, das, was aus und vorbei war, treibt frische Triebe, verlangt Beachtung, verlangt sogar, etwas daran zu ändern, obwohl es völlig klar ist, dass sich auf dieser Welt nichts ändern lässt.
     
    Marlene und Charlene. Viele dachten, dass wir Zwillinge sein mussten. Es war damals Mode, Zwillingen Namen zu geben, die sich reimten. Bonnie und Connie. Ronald und Donald. Und außerdem trugen wir – Charlene und ich – gleiche Hüte. Kulihüte hießen sie, breite, flache, aus Stroh geflochtene Kegel mit einem Gummiband oder etwas Ähnlichem unter dem Kinn. Später in jenem Jahrhundert wurden sie berühmt, durch Fernsehaufnahmen vom Vietnamkrieg. Männer, die auf Fahrrädern durch die Straßen von Saigon fuhren, trugen sie, auch Frauen, die aus einem bombardierten Dorf fortliefen.
    Zu jener Zeit – ich meine die Zeit, als Charlene und ich ins Ferienlager kamen – war es möglich, »Kuli« zu sagen, ohne es herabsetzend zu meinen. Oder »Neger« oder einen Preis »herunterjuden«. Ich glaube, erst als Teenager habe ich dieses Verb endlich mit dem Substantiv in Verbindung gebracht.
    Wir hatten also diese Namen und diese Hüte, und beim ersten Anwesenheitsappell zeigte die Betreuerin – die fröhliche, die wir mochten, Mavis, auch wenn wir sie nicht so gern mochten wie die hübsche, Pauline – auf uns und rief: »He, Zwillinge«, und dann rief sie andere Namen auf, bevor wir Zeit hatten, es abzustreiten.
    Noch davor müssen wir die Hüte bemerkt und gegenseitig gebilligt haben. Sonst hätten wir diese nagelneuen Kopfbedeckungen abgesetzt und wären bereit gewesen, sie unter unsere Pritschen zu stopfen und zu erklären, dass unsere Mütter uns gezwungen hätten, sie zu tragen, dass wir sie hassten und so weiter.
    Es kann sein, dass mir Charlene gefiel, aber ich wusste nicht recht, wie ich mich mit ihr anfreunden sollte. Mädchen von neun oder zehn Jahren – so das allgemeine Alter dieses Trupps, obwohl ein paar etwas ältere dabei waren – tun sich nicht mehr so leicht zusammen wie Mädchen von sechs oder sieben. Ich ging einfach hinter einigen Mädchen aus meiner Stadt her – obwohl keines davon zu meinen Freundinnen zählte – zu einer der Baracken, in denen noch Pritschen frei waren, und warf meine Sachen auf die braune Decke. Dann hörte ich eine Stimme hinter mir sagen: »Kann ich bitte neben meine Zwillingsschwester?«
    Es war Charlene, sie sprach ein Mädchen an, das ich nicht kannte. In der Baracke standen ungefähr zwei Dutzend Pritschen. Das angesprochene Mädchen sagte »Klar« und zog weiter.
    Charlene hatte einen besonderen Tonfall eingesetzt. Einschmeichelnd, neckend, selbstironisch und verführerisch lustig, wie das Geklingel von Glöckchen. Es war von vornherein klar, dass sie mehr Selbstvertrauen besaß als ich. Und sie vertraute nicht nur darauf, dass das andere Mädchen Platz machen und nicht standhaft sagen würde: »Ich war als Erste hier« (oder – falls es aus einer Familie mit groben Umgangsformen kam – wie einige, deren Aufenthalt vom Lions Club oder von der Kirche und nicht von den Eltern bezahlt wurde – sagen könnte: »Scheiß dir doch in die Hose, ich geh hier nicht weg«). Nein. Charlene vertraute darauf, dass jeder das, worum sie bat, nicht nur tun würde, sondern gerne tun würde. Auch mit mir ging sie ein Risiko ein, denn ich hätte ja sagen können: »Ich will keine Zwillingsschwester sein«, und mich abwenden können, um meine Sachen auszupacken. Aber das tat ich natürlich nicht. Ich fühlte mich geschmeichelt, wie sie es erwartet hatte, und sah zu, wie sie ihren Koffer derart triumphierend auskippte, dass einige Sachen zu Boden fielen.
    Ich vermochte nichts weiter zu sagen als: »Du bist ja schon braun.«
    »Ich werde immer schnell braun«, sagte sie.
    Der erste unserer Unterschiede. Wir machten uns daran, sie herauszufinden. Sie wurde braun, ich bekam Sommersprossen. Wir hatten beide braune Haare, aber ihre waren dunkler. Ihre waren wellig, meine buschig. Ihre Augen waren eher grün, meine eher blau. Wir wurden nicht müde, sogar die Leberflecken und größeren Sommersprossen auf unseren Rücken zu inspizieren und katalogisieren oder auch die Länge unserer zweiten Zehen (meine länger als der große Zeh, ihre kürzer). Oder alle Krankheiten und Unfälle aufzuzählen, die wir erlitten hatten, ebenso wie alle Einschnitte, die an unseren

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