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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Körpern vorgenommen worden waren. Uns beiden waren die Mandeln herausgenommen worden – eine übliche Vorsichtsmaßnahme zu jener Zeit –, und wir hatten beide Masern und Keuchhusten gehabt, aber nicht Mumps. Mir war ein Eckzahn gezogen worden, weil er nach innen über die Schneidezähne wuchs, und sie hatte einen Daumennagel mit beschädigtem Halbmond, weil ihr ein Fenster auf den Daumen geknallt war.
    Und sobald wir die Besonderheiten und Werdegänge unserer Körper erkundet hatten, wandten wir uns den Geschichten – den Dramen oder Beinahe-Dramen oder Eigenheiten – unserer Familien zu. Sie war die Jüngste und das einzige Mädchen in ihrer Familie, und ich war ein Einzelkind. Ich hatte eine Tante, die im Oberschulalter an Kinderlähmung gestorben war, und sie – Charlene – hatte einen älteren Bruder, der bei der Marine war. Denn es war Krieg, und beim gemeinschaftlichen Singen am Lagerfeuer wählten wir Lieder wie »There’ll Always Be an England«, »Hearts of Oak«, »Rule Britannia« und manchmal »The Maple Leaf Forever«. Bombenangriffe, Schlachten und Schiffsuntergänge bildeten den ständigen, wenn auch fernen Hintergrund unseres Lebens. Und manchmal schlug es ganz in unserer Nähe ein, erschreckend, aber feierlich und aufregend, so, wenn ein Junge aus unserem Städtchen oder unserer Straße gefallen war und das Haus, in dem er gewohnt hatte, zwar keinen besonderen Kranz oder Trauerflor trug, aber trotzdem ein besonderes Gewicht zu enthalten schien, ein Schicksal, das sich erfüllt hatte und es hinunterzog. Obwohl es eigentlich gar nichts Besonderes enthielt, vielleicht stand ein Auto davor, das da nicht hingehörte und zeigte, dass Verwandte oder ein Geistlicher gekommen waren, um bei der trauernden Familie zu sitzen.
    Eine der Lagerbetreuerinnen hatte ihren Verlobten im Krieg verloren und trug seine Uhr – wir glaubten, es war seine Uhr – als Brosche an ihrer Bluse. Wir hätten ihr gerne Anteilnahme und Mitgefühl entgegengebracht, aber sie war streng und hatte eine scharfe Stimme und sogar einen hässlichen Namen. Arva.
    Der andere Hintergrund unseres Lebens, der im Ferienlager hervorgehoben werden sollte, war die Religion. Aber da die Vereinigte Kirche von Kanada die Leitung hatte, wurde nicht so viel darauf herumgeritten wie bei den Baptisten oder den Bibelchristen oder so viel Wert auf Formen gelegt wie bei den Katholiken oder auch bei den Anglikanern. Die meisten von uns hatten Eltern, die der Vereinigten Kirche angehörten (obwohl einige der Mädchen, deren Aufenthalt von anderer Stelle bezahlt wurde, vielleicht gar keiner Kirche angehörten), und da wir ihren munteren weltlichen Stil gewohnt waren, merkten wir gar nicht, wie leicht wir davonkamen nur mit dem Abendgebet, den Tischgebeten bei den Mahlzeiten und dem besonderen halbstündigen Gespräch – genannt der Plausch – nach dem Frühstück. Sogar der Plausch war relativ frei von Verweisen auf Gott oder Jesus und drehte sich mehr um Herzensgüte und lautere Gedanken in unserem täglichen Leben und das Versprechen, niemals zu rauchen oder zu trinken, wenn wir groß wurden. Niemand hatte etwas dagegen oder versuchte, sich davor zu drücken, weil wir das gewohnt waren und weil es angenehm war, in der wärmenden Sonne am Strand zu sitzen, zumal es noch ein wenig zu kühl war, als dass wir uns danach sehnten, ins Wasser zu springen.
    Erwachsene Frauen tun dasselbe, was Charlene und ich taten. Vielleicht zählen sie nicht die Leberflecke auf dem Rücken der anderen oder vergleichen die Länge ihrer Zehen. Aber wenn sie sich begegnen und eine besondere Sympathie füreinander empfinden, dann spüren sie auch das Bedürfnis, sich das Wichtige mitzuteilen, die großen Ereignisse, ob nun äußere oder innere, und anschließend alle Lücken dazwischen zu füllen. Wenn sie diese Wärme und Offenheit spüren, können sie sich unmöglich miteinander langweilen. Sie werden über die Banalität und Albernheit dessen, was sie sich erzählen, lachen oder auch über das Eingeständnis eines Anfalls von erschreckender Selbstsucht, Arglist, Niedertracht oder reiner Boshaftigkeit.
    Es muss natürlich großes Vertrauen da sein, aber dieses Vertrauen kann sich sofort einstellen, innerhalb eines Augenblicks.
    Ich habe das beobachtet. Wahrscheinlich zum ersten Mal im Laufe jener langen Sitzungen um das Lagerfeuer, als wir den Maniokbrei oder dergleichen umrührten, während die Männer draußen im Busch waren und nicht miteinander reden durften,

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