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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nur drei Querstraßen von dem Haus entfernt, unweit der Schule. Aber meine Vorstellung von der Größe und Vielfalt der Stadt war immer noch derart, dass ich meinte, Verna vollkommen entronnen zu sein. Ich merkte, dass das nicht stimmte, jedenfalls nicht ganz, als ich ihr eines Tages zusammen mit einer Klassenkameradin auf der Hauptstraße begegnete. Wir mussten von einer unserer Mütter losgeschickt worden sein, um etwas zu besorgen. Ich sah nicht hoch, meinte aber, im Vorbeigehen ein Kichern der Begrüßung oder des Wiedererkennens zu hören.
    Das andere Mädchen sagte etwas Entsetzliches zu mir.
    Sie sagte: »Ich dachte immer, sie ist deine Schwester.«
    »Was?«
    »Na, ich wusste, dass ihr im selben Haus gewohnt habt, also dachte ich, ihr müsst miteinander verwandt sein. Mindestens Kusinen. Und? Seid ihr Kusinen?«
    »Nein!«
     
    Der alte Bau, in dem die Sonderklassen untergebracht worden waren, wurde zum Tode verurteilt, und seine Schüler zogen in die Bibelkirche um, die die Stadt jetzt wochentags angemietet hatte. Die Bibelkirche war zufällig gleich um die Ecke von dem Bungalow, in dem meine Eltern und ich inzwischen wohnten. Verna hätte auf mehreren Wegen zur Schule gehen können, aber sie wählte den Weg, der an unserem Haus vorbeiführte. Und unser Haus stand nicht weit vom Bürgersteig entfernt, was bedeutete, dass sie ihren Schatten auf unsere Türstufen werfen konnte. Wenn sie wollte, konnte sie Kieselsteine auf unseren Rasen stoßen, und wenn wir unsere Rouleaus nicht zuzogen, konnte sie in unsere Diele und in unser Wohnzimmer spähen.
    Der Stundenplan der Sonderklassen war geändert worden, so dass er mit der normalen Schulzeit übereinstimmte, wenigstens morgens – nachmittags gingen die Sonderschüler immer noch früher nach Hause. Sobald sie in der Bibelkirche untergebracht waren, herrschte offenbar die Meinung, dass es nicht mehr notwendig war, sie auf dem Schulweg von uns übrigen zu trennen. Das bedeutete, Verna konnte mir jetzt auf dem Bürgersteig begegnen. Ich schaute immer in die Richtung, aus der sie kommen musste, und wenn ich sie sah, huschte ich zurück ins Haus, unter dem Vorwand, dass ich etwas vergessen hatte oder dass einer meiner Schuhe an der Hacke scheuerte und ich ein Pflaster brauchte oder dass eine Schleife in meinem Haar aufgegangen war. Ich wäre nie so blöd gewesen, Verna zu erwähnen, um von meiner Mutter zu hören: »Was hast du für ein Problem, wovor hast du Angst, meinst du, sie wird dich auffressen?«
    Was hatte ich für ein Problem? Beschmutzung, Ansteckung? Verna war sauber und gesund. Und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie mich angreifen und mich mit Fäusten schlagen oder mir die Haare ausreißen würde. Aber nur Erwachsene können so dumm sein, zu glauben, dass sie keine Macht hatte. Eine Macht, die überdies besonders gegen mich gerichtet war. Ich war diejenige, die sie im Auge hatte. Glaubte ich zumindest. Als hätten wir ein geheimes Einverständnis, das nicht beschrieben werden konnte und sich nicht beenden ließ. Etwas, das sich verklammert, wie Liebe, obwohl es sich für mich wie Hass anfühlte.
    Wahrscheinlich hasste ich sie, wie manche Menschen Schlangen oder Raupen oder Mäuse oder Nacktschnecken hassen. Aus keinem vernünftigen Grund. Nicht, weil sie mir etwas Bestimmtes antun konnte, sondern weil sie mich im Innersten aufwühlen, mir das Leben verderben konnte.
     
    Als ich Charlene von ihr erzählte, waren wir zu den tieferen Bereichen unserer Gespräche gelangt – Gespräche, die nur aussetzten, wenn wir badeten oder schliefen. Verna war kein so starkes Angebot, nicht so ekelerregend wie der pumpende, picklige Hintern von Charlenes Bruder, und ich weiß noch, dass ich sagte, sie sei so scheußlich, dass ich sie nicht beschreiben könne. Aber dann beschrieb ich sie doch, auch meine Gefühle ihr gegenüber, und ich muss meine Sache gar nicht so schlecht gemacht haben, denn eines Tages gegen Ende unseres zweiwöchigen Aufenthalts im Ferienlager kam Charlene mittags in den Speisesaal gestürzt, ihr Gesicht strahlte vor Entsetzen und seltsamer Freude.
    »Sie ist hier. Sie ist hier. Dieses Mädchen. Dieses schreckliche Mädchen. Verna. Sie ist hier!«
    Das Mittagessen war vorüber. Wir waren dabei, abzuräumen und unsere Teller und Becher auf den Küchentresen zu stellen, damit die Mädchen, die an dem Tag Küchendienst hatten, sie nehmen und abwaschen konnten. Danach stellten wir uns immer vor dem Süßwarenladen an, der jeden Tag um eins

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