Zuckerguss und Liebeslieder Roman
Mary Lou scheint nicht ganz sie selbst zu sein. Normalerweise würde sie herkommen, aber heute wirkt sie lustlos und irgendwie verstimmt. Es ist schon fast Ende September, die brütend heißen, drückenden Tage sind vorbei, der Herbst kündigt sich mit ersten kalten Lüftchen an, und nachts wird es schon empfindlich kühl. Vielleicht braucht sie eine Kuhdecke? Das ist eine Idee - ich werde eine als Abschiedsgeschenk für Casey besorgen. Aber bei dem Gedanken, Casey zurückzulassen, verfalle ich wieder in tiefe Niedergeschlagenheit.
»Hey! Sollten Sie nicht unterwegs sein und Eintrittskarten verkaufen?«
Ich zucke überrascht zusammen, als Wyatt über die Verandastufen in den Garten tritt und zu mir hinschlendert.
Er hat seinerseits einen Becher Kaffee in der Hand und lehnt sich an den Zaun.
»Fange heute später an«, sage ich. »Ich treffe mich um
zehn mit Sheriff Billy im Diner, um die neuesten Verkaufszahlen zu erfahren.«
»Es wird gemunkelt, man bekäme einen Strafzettel erlassen, wenn man zwei Eintrittskarten kauft.«
Das würde mich nicht wundern.
Wyatt zeigt zum Wald. »Die ersten Blätter verfärben sich schon«, sagt er. »Schade, dass Sie die ganze Pracht nicht mehr sehen können.«
»Ja«, sage ich, in Gedanken wieder bei dem Konzert. Wie kann ich das Gespräch auf den eklatanten Mangel an musikalischen Talenten bringen? Wyatt geradeheraus zu fragen, ob er etwas singen will, ist keine gute Idee - man bedenke, was bei meinem letzten Versuch herausgekommen ist -, aber wenn ich ordentlich mit dem Zaunpfahl winke, bietet er es vielleicht von sich aus an?
Ich räuspere mich. »Die Jungs von der Straßeninspektion überlegen, es mit ein paar neueren Songs zu probieren.«
»Die Rotahornbäume, die haben echt was«, sagt Wyatt.
»Nickelback«, platze ich heraus.
»Alle denken, man müsste nach Neuengland, um Herbstlaub zu sehen, dabei ist es hier in Ohio genauso schön.«
»Und Snoop Dogg«, sage ich vernehmlich.
»Und wenn auf den Kiefern da dann Schnee liegt, das hat auch was.«
Himmelherrgott noch mal. Wie bringe ich ihn bloß von den Blättern und Nadeln weg? Ich muss wohl etwas direkter werden. »Ich glaube, das mit der Musik wird eine ziemliche Katastrophe. Wir brauchen noch mehr Nummern«, sage ich, hoffentlich hysterisch genug. Meine Verzweiflung wird ihm doch sicher nicht entgehen? Wie kann er den Wink nicht kapieren?
Oder ist das hier der kaltschnäuzige Wyatt, vor dem
Gerry mich gewarnt hat, der Wyatt, der wegen seines selbstsüchtigen Wunschs nach Ruhe und Abgeschiedenheit kein Land an die Farmer von Barnsley verpachtet?
»Mal was von Stephen gehört?«, fragt er.
»Von Stephen? Nein!« Es gelingt mir nicht, meinen Frust zu kaschieren. Wen interessiert schon Stephen? Ich habe eine dreiseitige Erledigungsliste, und morgen ist das Konzert. »Ich schaffe das alles nie im Leben«, wimmere ich. »Ich mache mir ernsthafte Sorgen wegen der Musik.« Verdammt noch mal, das ist kein Zaunpfahl mehr, das ist ein ausgewachsener Schiffsmast.
»Sie kriegen das schon hin«, sagt Wyatt und nippt gemächlich an seinem Kaffee. »Tun Sie doch immer.« Er dreht sich zu mir hin. »Pfannkuchen?«
Ein Wort noch, und ich fange an zu brüllen. Stattdessen streiche ich mein T-Shirt glatt und seufze theatralisch. »Ich habe keine Zeit für Pfannkuchen. Manche Menschen haben zu tun.« Und damit stolziere ich zurück ins Cottage.
Also wirklich - muss man Männern eigentlich alles in dicken, fetten Großbuchstaben unter die Nase reiben?
Um zehn Uhr sitze ich im Diner und warte auf Sheriff Billy. Celeste hat mir ausgerichtet, dass er ein bisschen später kommt, weil ein Wagen einem Stinktier ausgewichen ist und jetzt im Graben feststeckt. Als Autofahrer ist man hier einigen Risiken ausgesetzt.
Mr. Horner hat darauf bestanden, dass ich mich zu ihm an den Tisch setze. Er trägt sein Kuh-T-Shirt unter einer bis oben hin zugeknöpften Strickjacke und dazu einen leichten sandfarbenen Wollschal.
Mr. Horner hat mir von seiner neuesten Idee für eine Website erzählt - Dachziegel in Barnsley einst und jetzt -, aber
sosehr ich mich auch bemühe, ich bin nicht recht bei der Sache.
»Sie sind heute nicht ganz Sie selbst«, sagt er.
»Mir geht’s gut«, sage ich wenig überzeugend.
»Ist es wegen Wyatt?«
Ich kann meine Überraschung nicht verbergen. Mr. Horner lächelt still vor sich hin und wischt sich mit der Serviette über die Mundwinkel. »Wyatt ist ein guter Mann.«
»Ach ja?«, rutscht es mir heraus.
Mr.
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