Zuckerguss und Liebeslieder Roman
Alle Helfer klatschten Beifall, und Casey drückte mich, so fest er konnte. »Danke, Miss Alice. Sie haben Mary Lou das Leben gerettet.« Ich muss zugeben, an dieser Stelle habe ich ein paar
Tränchen zerdrückt. Offenbar ist mein Leben doch nicht ganz und gar bedeutungslos.
Ein weiteres Auto fährt vor, zwei Türen fallen krachend ins Schloss, ich höre Begrüßungsworte und lautes Gelächter. Ich ziehe mir mein verkrumpeltes Kuh-T-Shirt über die marineblaue Trainingshose von Marks & Spencer, steige über die Wendeltreppe nach unten und luge aus dem Küchenfenster. Mich trifft fast der Schlag: Auf dem Hof wimmelt es von Fotografen und Leuten mit Notizbüchern in der Hand.
Jemand entdeckt mich und schreit: »Guckt mal da - eine Frau!«
Alles brüllt durcheinander.
»Wer ist das?«
»Seine Freundin.«
»Seine Seelenklempnerin.«
»Seine Mutter.«
Wie bitte!? Ich ducke mich und krieche auf allen vieren zu meiner Handtasche, die an einem Küchenstuhl hängt, hole das Kompaktpuder von Avon heraus und starre auf mein Spiegelbild im Dosendeckel. Ich sehe reichlich fertig aus: aschfahl vor Müdigkeit, mit schwarzen Ringen unter den Augen, wo Reste von Wimperntusche über Nacht Schmierspuren hinterlassen haben.
Dann fangen sie an, gegen die Tür zu hämmern. »Wir bieten Ihnen die besten Konditionen für ein Exklusivinterview«, plärren sie im Chor.
Was um alles in der Welt geht hier vor? Kann Mary Lou wahrhaftig so berühmt sein? Ich schlurfe zur Tür und verriegle sie hastig. Draußen herrscht weiter Getümmel. Ich versuche mir aus den Gesprächsfetzen zusammenzureimen, was diese Typen hier eigentlich zu suchen haben.
»Wir haben Wyatt um Mitternacht auf YouTube gesehen, sind direkt ins Auto gesprungen und die ganze Nacht durchgefahren.«
»Genau, um sechs Uhr morgens waren wir da.«
»Ein paar Zeitungsfritzen aus New York müssten auch bald kommen. Haben offenbar gleich den ersten Flieger genommen.«
»Habt ihr mit dem Knaben geredet, der das Video aufgenommen hat?«
»Logan? Mit dem haben wir alle geredet. Er hing da in diesem Blue Ribbon Diner herum. Der Junge ist ein guter Kameramann.«
»Der Junge ist ein Blödmann. Wenn er es nicht bei YouTube eingestellt hätte, hätte er sich dumm und dusselig verdienen können.«
Ich glaube, ich weiß jetzt, was los ist. Auf Händen und Knien krauche ich ins Wohnzimmer, suche nach meinem BlackBerry und rufe Wyatt an. Er meldet sich sofort.
»Verdammt, Alice, ist alles okay mit Ihnen? Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Bleiben Sie, wo Sie sind!«
»Liege ich richtig mit meiner Vermutung, was hier abläuft?«, frage ich.
Wyatt klingt fuchsteufelswild. »Logan, dieser kleine Idiot, hat nicht nur Madison aufgenommen, sondern auch meinen neuen Song. Und dann hat er ihn gestern Abend bei YouTube eingestellt.«
Nicht zu fassen, wie schnell sich das herumgesprochen hat. »Erst gestern Abend!«
»Ja, offenbar gegen Mitternacht. Ein paar von den Typen schreiben für Musikzeitschriften, die meisten kommen aber von den Klatschblättern.«
»Und was wollen sie?«
»Ein Interview«, seufzt er. »Sie wollen wissen, warum ich
auf einmal beschlossen habe, wieder zu singen, nachdem ich jahrelang still dem Suff gefrönt habe. Hören Sie, ich komme später noch rüber. Ich muss mich ein bisschen sammeln. Halten Sie sich einfach bedeckt. Die werden abziehen, sobald ich mit ihnen gesprochen habe.«
»Okay.«
»Alice, halten Sie sich da raus«, sagt Wyatt energisch. »Ich will nicht, dass Sie in all das mit reingezogen werden.«
Er legt auf. Die Zeit nutze ich wohl am besten zum Packen. Morgen läuft mein Visum ab, und abends fliege ich. Mir kommt der grässliche Gedanke, dass ich Wyatt vor meiner Abreise womöglich gar nicht mehr sehen werde. Genauer gesagt, dass ich ihn womöglich nie mehr wiedersehen werde. Mich befällt eine schreckliche, schmerzhafte Traurigkeit. Er wird nach dem Neustart zu seinem Leben als internationaler Superstar zurückkehren, und ich zu meinem sattsam bekannten Bürojob in New Malden.
Wobei mir einfällt, dass ich immer noch nicht Teresa angerufen und ihr das mit Dad erzählt habe. Hmm. Vielleicht ein bisschen später.
Ich gehe nach oben und fange ohne Lust und Liebe an zu packen. Mit jeder Schublade, die ich leere, und jedem Bügel, den ich zur Hand nehme, fühle ich mich mieser. Geisttötende Routinetätigkeiten haben mich bisher immer auf andere Gedanken gebracht, aber heute will es nicht funktionieren. Mir ist nur danach, mich mit
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