Zuckerleben: Roman (German Edition)
deiner Stelle würde ich Gazagnes eine Ansichtskarte oder einen Dankesbrief schicken. Die Zuckerreform war notwendig und überfällig. Und das ist auch der Grund, warum einige Zuckerfabriken im Süden Italiens bereits 2006 geschlossen haben, dank Gazagnes Beschluss blieb aber dein Zuccherificio, also die Zuckerfabrik in Termoli, erhalten.«
»Und warum erzählst du mir das alles?«
»Weil es absolut bescheuert ist, sich wegen eines Rausschmisses aus einer Zuckerfabrik umbringen zu wollen. Vor allem, wenn man ein Teenager ist wie du und sein ganzes Leben noch vor sich hat. Deswegen glaube ich auch nicht, dass euer Freund aus Giulianova tot ist; sondern wahrscheinlich wandert er hier irgendwo fröhlich in den Bergen herum und genießt seine Rente«, sagt der Moldawier, ist mit seinen Gedanken jedoch nur bei seiner Teedose.
00:49
Es passiert etwas, was Cristina nicht erwartet hat: Das schwarze Auto bremst abrupt ab, braust im Rückwärtsgang auf den Hotelhof zurück, fährt den automatischen Sarg heraus, lädt Filippo Calabrese mit einem dumpfen Geräusch vor Monicas Füßen ab, fährt den Metallsarg wieder ein und speit einen aufgeregten Priester heraus, der wie von der Tarantel gestochen Monica zuruft, er könne einem Apostat, einem Mann, der sich bereits in den Achtzigern vom Wege des Herrn abgewandt habe und aus der Heiligen Mutter Kirche ausgetreten sei, nicht mehr helfen. Der Mann Gottes fügt dem hinzu, dass die sündige Lebensart Monicas dem Ganzen sicherlich zugrunde liege und das Auftauchen des selbstmörderischen Zuckerfabrikarbeiters Filippo Calabrese in ihrem Hotel als mahnende Warnung Gottes aufzufassen sei, steigt wieder ein, ruft der perplexen rothaarigen Frau zweimal »Denk an Sodom und Gomorrha!« hinterher, steigt wieder aus, bedeutet ihr mit einem mahnenden Zeigefinger, dass er sie am Sonntag zur Beichte erwarte, steigt wieder ein, knallt die Tür mit einem zischend missbilligenden »Sacramento!« zu und löst sich samt Auto wie in nichts auf.
Als Cristina wieder ins Zimmer hereinkommt, sieht sie, wie Angelo den Moldawier scharf beobachtet, und fragt: »Wer ist denn jetzt dieser Hlebnik, und was hat es mit den 40 Tonnen Zucker auf sich?«
Tolyan Andreewitsch antwortet nicht. Er bemerkt Cristina und bittet sie, ihm seinen Pass und seine Geldbörse zurückzugeben. Das Mädchen kommt seiner Bitte nach, der Moldawier steckt seinen Pass ein, und als er feststellt, dass in der Geldbörse einige Scheine fehlen, schnippt er ungeduldig mit den Fingern Richtung Cristina, bis die junge Italienerin ihm drei 500-Euro-Scheine zurückgibt mit der Bemerkung, sie habe das Geld nur für den Notfall eingesteckt.
Der Moldawier geht gar nicht darauf ein und konzentriert sich wieder ganz auf den Jungen. Wie eine Schlange, die ihre Beute hypnotisieren will.
»Woher weißt du davon?«, fragt Tolyan Andreewitsch leise, aber bestimmt, wobei sein goldener Zahn ein wenig aufblitzt.
»Sagen wir mal, dass ich nicht unsensibel für das Thema Zucker bin …«, antwortet der Junge und lächelt.
Cristina schleicht sich von den Männern unbemerkt aus dem Zimmer.
01:10
Der serbische Kirchenvater Borimirović, der den hohen Rang eines Wladyka bekleidet, staubt mit Bedacht die Ikone des Heiligen Sava ab, die er eigens für die Zeremonie der Einweihung der neuen serbisch-orthodoxen Kirche in Rom von zu Hause mitgebracht hat. Borimirović reicht die Ikone seinem Sekretär Dušan; Dušan bekreuzigt sich nach orthodoxer Fasson drei Mal, packt den Heiligen Sava mit großer Vorsicht in einen Koffer und summt dabei das Lied Nesanica , in dem es um einen jungen Mann geht, der vor Liebeskummer für seine Angebetete keinen Schlaf finden kann, als ein schüchternes Klopfen an der Tür ertönt. Einmal. Und dann in einem kurzen Abstand wieder: Tok. Toktok. Tok. Die Tür geht einen Spaltweit auf, und vor den beiden Serben erscheint die sichtlich beunruhigte Hotelbesitzerin des »Dolce della Luna« Monica di Garozzo. Monica blickt zuerst Dušan an, dann die epische Gestalt des bärtigen Wladyka, über dessen Brust ein überdimensionales orthodoxes Kruzifix aus einfachem Holz hängt, sagt aber nichts.
»Дa?«, fragt Dušan und fügt in tadellosem Italienisch hinzu: »Ich meine, ja bitte?«
Er ist lediglich mit großzügig geschnittenen Boxershorts und einem schwarzen T-Shirt bekleidet, auf dem die selbst erklärende Gleichung »Kosovo = Srbija« in kyrillischen Buchstaben aufgedruckt ist. Und es hat nicht mehr dafür gebraucht, dass
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