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Zuckerleben: Roman (German Edition)

Zuckerleben: Roman (German Edition)

Titel: Zuckerleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pyotr Magnus Nedov
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Familie. Aber dem bin ich egal.«
    »Wer ist Rocco?«, will der Moldawier wissen.
    »Ich glaube, das geht dich nichts an«, sagt der Junge, der die isländische Angewohnheit angenommen hat, grundsätzlich jeden zu duzen.
    »Siehst du das hier?« Tolyan Andreewitsch zeigt auf seine geschundene Augenbraue.
    »Seit ich heute wegen euch fast abgekratzt wäre, geht es mich sehr wohl was an. Sagt wenigstens Danke, dass ich nicht dem Alfa Romeo der Carabinieri hinterhergefahren bin, um den Bullen meine Version der Geschichte zu erzählen.«
    »Fick dich doch!«
    Cristina schiebt ihren leeren Teller zur Seite und geht raus auf den Balkon. Ein ausgestopfter apenninischer Wolfskopf mit gefletschten Zähnen sieht Tolyan Andreewitsch von der Wand aus vorwurfsvoll an.
    00:30
    »In der Heiligen Schrift wird dieses Wort oft verwendet. Zum Beispiel in den Psalmen: ›Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen‹, Psalm 1,5, oder: ›Gnade und Gericht werde ich singen‹, Psalm 101,1. Der weise Salomon schreibt, dass ›das Gericht für alle vom Herrn kommt‹, Sprichwörter 29,26. Selbst der Erlöser hat gesagt, ich zitiere nach Johannes: ›Der Vater hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen‹, Johannes 5,22; und ebenfalls bei Johannes heißt es an anderer Stelle: ›Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt‹, Johannes 12,31. Und auch der heilige Apostel Petrus schreibt in seinem ersten Brief, wie du zweifelsohne auch weißt: ›Jetzt ist die Zeit, in der das Gericht beim Haus Gottes beginnt‹, I Petrus 4,17. Was kann man daraus folgern?«, sagt Padre Piersanti Motadonna und sieht die Besitzerin des Hotels »Dolce della Luna« Monica di Garozzo erwartungsvoll an. Wie ein nachsichtiger Lehrer, der überprüfen will, ob sein Schüler endlich mal die Hausaufgaben gemacht hat.
    »Dass Sie die Bibel auswendig gelernt haben?«
    Padre Piersanti Motadonna verdreht demonstrativ die Augen. Dazu entweicht dem Mann Gottes zischend ein missbilligendes »Sacramento!« aus seinem dünn belippten Mund. Der Padre visiert scharf Monica di Garozzos Augen.
    »Dass die Begriffe ›Gericht‹ und ›Krise‹ eine ähnliche Bedeutung haben; oder aber dass sie zumindest das gleiche semantische Feld teilen müssen.«
    »Aha.«
    Padre Motadonna nimmt kurz seine mit versilbertem Rand versehenen Brillengläser ab und zeigt damit auf di Garozzos linken Busen.
    »Tatsächlich ist es so, dass das Wort ›Krise‹ aus dem Griechischen kommt und so viel wie ›Gericht‹ bedeutet. Sehr zeitgemäß, wie ich finde …«
    Ein leises Lächeln huscht über des Padre Gesicht.
    »Ersetzt man also dementsprechend die oben genannten Passagen, ergäbe das Folgendes: Darum werden die Frevler in der Krise nicht bestehen; Gnade und Krise werde ich singen; die Krise kommt für alle vom Herrn; der Vater hat die Krise ganz dem Sohn übertragen; jetzt wird die Krise gehalten über diese Welt; jetzt ist die Zeit, in der die Krise beim Haus Gottes beginnt …«
    Padre Piersanti dreht kleine Runden im Kellerraum des Hotels »Dolce della Luna« mit auf dem Rücken verschränkten Händen, wie ein Nonnenkranich. Dann bleibt Motadonna stehen und deutet plötzlich mit einem Finger auf eine von der Decke herunterhängende Wurst von beachtlichen Ausmaßen und sieht Monica an.
    »Mortadella«, sagt die Mailänderin und zieht sich den dünnen Kimono enger um die Taille. »Unglaublich. Und sagen Sie, Padre, warum ist diese Krise über uns hereingebrochen?«
    »Die Apostasie ist schuld.«
    »Wie bitte?«
    »Die Apostasie, der Abfall vom Glauben. Früher war es die Beulenpest, heute ist es Griechenland. In modernen Zeiten erfindet der Allmächtige eben auch moderne Strafen. Und Gott hat sich wahrlich effektiver Mittel bedient, damit die Menschen sich besinnen, ihr Gewissen wachzurütteln: Er traf sie durch die Banken, durch die Börse, durch die Finanzen, durch die Valuta. Er hat ungeheure Panik unter den Kommersanten und den Geldwechslern gesät; die Wechselstuben der ganzen Welt umgekippt, wie einst die Tische der Geldwechsler in Jerusalem.«
    »Und wie lange wird diese Krise andauern?«
    Der Padre legt an dieser Stelle eine viel bedeutende Pause ein.
    »Solange die Seele der Menschen unverändert bleibt; solange die selbstsicheren Verursacher dieser Krise, die am Ufer ihres materiellen Wohlbefindens an der Wall Street verankert sind, sich ihrer Seele nicht bewusst werden und die Ungerechtigkeiten nicht zugeben, sich nicht dem Allmächtigen Gott beugen, nicht vor dem Herrn

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