Zuckerleben: Roman (German Edition)
einem Tunnel befindet. Womöglich auch in einem überdimensionalen Trichter oder einem Wurmloch. Wie eine Motte fängt Tolyan Andreewitsch ohne sein eigenes Zutun an, Richtung Licht zu treiben. Plötzlich erkennt er neben sich einen durchsichtigen Alkoholbottich von Dimensionen, wie sie nur für Fabriken oder Industrieanlagen üblich sind. In dem Bottich befindet sich Direktor Hlebnik, erstarrt in der Pose des Rodin’schen Denkers. Direktor Hlebnik ist vollständig von einer Flüssigkeit umgeben, scheint aber dennoch trocken und lebendig zu sein. Tolyan Andreewitsch hebt den Arm zum Zeichen der Begrüßung. Hlebnik erwidert die Geste nicht, gibt dem Moldawier jedoch zu verstehen, dass er sich seinem Alkoholbottich nähern soll. Tolyan Andreewitsch rudert daraufhin beherzt mit Armen und Beinen Richtung Hlebniks Bottich. Als der Moldawier bereits so nah an Hlebnik gekommen ist, dass er den Bottich des Direktors mit ausgestrecktem Fuß berühren könnte, fängt der Direktor unvermittelt an, wie verrückt mit seinen Gliedmaßen zu fuchteln, schreit zweimal mit ukrainischem Akzent: »Hau ab! Deine Zeit ist noch nicht gekommen!«, und löst sich alsdann samt Bottich in Nichts auf.
HLEBNIK
1991. DONDUȘENI, MOLDAWISCHE SSR
Von Gaddafi und schlechten Ernten
In der rayonalen Zuckerfabrik des moldawischen Fünfzehntausend-Seelen-Dorfes städtischen Typus’ Dondușeni, wie die offizielle Bezeichnung der Ortschaft lautet, betrachtet der zwischen zwei Zentrifugen eingehängte Zuckerfabrikdirektor Hlebnik zwei Kleinkinder, ein Mädchen und einen Jungen, beide ungefähr fünf Jahre alt, die gedankenverloren durch die Halle schlendern. Der Junge trägt einen Lenin-Anstecker und eine kirschrote Armbinde, während das Mädchen eine Netztasche mit einem halbierten ausländischen Teddybären darin transportiert. Im Hintergrund ertönt Paganinis Caprice Nr. 24 in der Ausführung von Jascha Heifetz, der mittels einer Seilvorrichtung wie ein sandinistisches Molekül knapp unter dem Dach der Abfüllhalle 2 der Zuckerfabrik schwebt. Nach einer Weile bricht der Junge mit dem Lenin-Anstecker das Schweigen – »Auf dem Weg nach Colombo hat Gaddafi in Taschkent Zwischenstation gemacht. Er wollte mich sprechen. Ich habe ihm mitteilen lassen, dass du bei uns weilst und ich ihn deshalb nicht treffen kann.« –, entnimmt seiner Brusttasche eine Schachtel filterlose Papirossy der Marke Weißmeerkanal und hält die Zigarettenpackung dem Mädchen entgegen.
»Zu Gaddafi haben wir gute Beziehungen. Er sitzt jedoch viel in der Wüste und betet«, sagt das Mädchen, zieht eine Weißmeerkanal aus der Schachtel und steckt sie sich in den Mund.
Der Junge mit der kirschroten Armbinde lacht.
»Gaddafi muss noch manches lernen und Erfahrungen sammeln. Er soll auch zu einem offiziellen Besuch zu uns kommen, wenn die Zeit reif ist.«
Der Junge steckt sich ebenfalls mit einer flinken Bewegung eine Weißmeerkanal in den Mund, zieht aus einem Jackenärmel einen zusammengeknüllten Zettel hervor, zündet sich die Papirossa an und fährt mampfend fort:
»Aber nun zum Geschäft: In Polen halten die Schwierigkeiten nach wie vor an. Jetzt haben sie Zuckerkarten eingeführt. Fleischkarten sollen folgen. Gierek hat mich mit Tränen in den Augen gebeten, ihm zu helfen.«
»Und?«
»Ich konnte ihm nichts versprechen.«
Eine unbehagliche Pause setzt ein.
»Und was ist mit … UNS ?«, fragt das Kind mit dem Teddybär besorgt.
Der Junge mit dem Lenin-Anstecker beäugt das Mädchen scharf und fuchtelt mit seinem Zettel herum.
»Ich habe hier die Ziffern über den Stand unserer gegenseitigen Lieferungen. Wir haben euch 2000 Traktoren zusätzlich geliefert, davon 50 vom Typ K700 Kirowez. An Erdöl bezieht ihr jetzt 16 Millionen Tonnen von uns. Aber das reicht euch immer noch nicht. Ich verstehe gar nicht, wo das alles bleibt?!«
Das Mädchen macht ein trauriges, beinahe weinerliches Gesicht.
»Ab Mai hatten wir keinen Regen mehr.«
»Was heißt das?«
»Wir werden fünfzig Prozent weniger Kartoffeln ernten, nicht wie vorgesehen 195 Dezitonnen, auch nicht den Durchschnitt des Vorjahres, 173, sondern weniger als 100 Dezitonnen. Das Gleiche gilt für Zuckerrüben und Getreide. Wir schätzen den diesjährigen Verlust auf 8,4 Millionen Tonnen Getreideeinheiten.«
»Das ist schlecht.«
»Mehr als schlecht sogar. Wir sind jetzt gezwungen, für mindestens 1,5 Milliarden Dollar Getreide zu kaufen.«
Die Augen des Jungen leuchten kurz auf, so
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