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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Hassenmüller
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zittern. Erst nur wenig, aber dann mehr und mehr, so daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Wie lange lag sie schon hier? Fünf Minuten, eine halbe Stunde, Stunden? Sie wußte es nicht. Jeder Begriff von Zeit schien erstickt in Angst und Kälte. Ein Krankenpfleger kam herein, sah sie uninteressiert an, sein Blick glitt über ihre rasierte Scham, grußlos ging er in den angrenzenden Warteraum. Die Liege unter ihr ächzte. Ihr Zittern schüttelte sie. Sie existierte nicht mehr. Nur noch Schlachtvieh, das ausgenommen werden mußte.
    Ein Embryo von vier Monaten hat Arme und Beine, Fingerchen und Zehen. Und sie hatte gespürt, wie sein Herz klopfte. Jetzt klopfte es nicht mehr. Sie hatte Blutungen bekommen. “Nichts mehr zu machen”, hatte ihr Hausarzt gesagt. “Wir können auf einen spontanen Abgang warten oder Sie kürettieren. Eine Ausschabung vornehmen”, erklärte er ihr, da er glaubte, sie habe den Fachausdruck nicht richtig verstanden. “Eine Ausschabung, ja.” Sie wollte nicht mit einem toten Kind im Leib herumlaufen. Ekelhaft war ihr der Gedanke, als greife die Fäulnis des Kindes auf sie über. Ihr Kind, ihr Baby war in ihr. Tot. Hubert hatte sie ins Krankenhaus gefahren, sie in ihrem Zimmer abgeliefert wie einen Sack schmutziger Wäsche. Er wußte nichts zu sagen. Warum war er nicht bei ihr geblieben? Warum lag sie hier allein, beinahe nackt, erstarrt vor Angst und Kälte. Wieder ging die Tür vom Warteraum auf, zwei Schwestern kamen herein. Lachten. “Hier liegt noch jemand. Es ist schon zwei Uhr. Hast du schon Kaffee gehabt?” Die Tür glitt geräuschlos hinter ihnen ins Schloß. Gleich schreie ich, dachte sie. Ich schreie und schreie und höre nie wieder auf zu schreien. Aber ihre Zunge lag dick und trocken in ihrem Mund, erstickte jeden Schrei im Keim. “Keine große Sache”, hatte Huberts Mutter gesagt, die die Weihnachtsfeiertage bei ihnen verbringen wollte. “In zwei, drei Tagen bist du wieder auf den Beinen.” Gaby hatte die Augen geschlossen und nicht geantwortet. Begriff denn keiner, daß ihr Kind gestorben war? Ihr Kind, das sie nie in den Armen gehalten hatte. Vielleicht wollte es nicht geboren werden. Jedes Kind sucht sich seine Mutter aus, hatte sie gelesen. Vielleicht hatte dieses Kind gerade noch rechtzeitig seinen Irrtum bemerkt. Es hatte sie nicht gewollt.
    “So, jetzt sind wir an der Reihe. Eine Spritze und eins, zwei, drei ist der Schaden behoben.” Eine Schwester, vermummt in grünem Kittel und grünem Häubchen, schob sie in den Operationssaal. Für einen kurzen Augenblick öffnete Gaby die Augen, nahm in Sekundenschnelle die grellen, runden Operationslampen wahr, weitere Gestalten mit grünen Kappen und weißem Mundschutz, Tische mit blitzenden Instrumenten. Fort, dachte sie, nur fort. Fort zu grünen Wiesen und saftigen Weiden. Da, sie hörte die Glöckchen der Schafe. Sie warteten wieder auf sie, kamen auf sie zugesprungen. Da bist du ja, blökte eins und rieb den weichen Kopf gegen ihren Arm. Es ist lange her, daß du hier warst. Ja, sagte Gaby. Früher war sie oft hier gewesen. Immer, wenn Pappi ‘lieb’ zu ihr war. Sie kraulte das Tier hinter den Ohren, vergrub ihr Gesicht in dem Fell. “Zählen Sie jetzt”, sagte eine Stimme aus einer anderen Welt. “Zählen Sie bitte.” Schafe und Lämmer, dachte Gaby. Opferlämmer. “Eins, zwei, drei...”
     
    Sie wurde wach durch Gelächter, jemand stieß gegen ihr Bett. Am Nachbarbett sah sie fremde Gesichter, Blumen, ein Sektkorken knallte. “Was für ein wunderschönes Baby”, sagte eine helle Frauenstimme. “Prost. Nein, die junge Mutter darf nichts! Aber wir stoßen auf den Prachtkerl an.”
    Ja, richtig, sie lag im Krankenhaus. Kein Prachtkerl für sie. Nur Frieren. Einsamkeit. Eine Spritze und eins, zwei, drei, der Schaden ist behoben. Sie drehte den Kopf zu der Uhr über der Tür. Sieben Uhr abends. Besuchsstunde.
    “Kommt da niemand?” hörte sie die helle Stimme fragen. “Psst. Ich glaube ein Abortus.” — “Also wirklich. So eine sollte man nicht zu dir legen.” Besorgnis schwang in der Stimme. “Das schlägt dir vielleicht auf die Milch.”
    Sie stellte sich schlafend. Wäre am liebsten unter die Bettdecke gekrochen. Gaby, Tauchstation, hatte vor einer Ewigkeit eine Frau gerufen, wenn die Arztvisite begann. Und sie hatte sich in ihre kleine, weiße Höhle zurückgezogen, um nichts von den Ärzten zu sehen. Und nichts von den alten Frauen mit ihren runzligen Bäuchen und den schrecklichen

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