Zuckerpüppchen - Was danach geschah
ein süßes Kind nannte. Jemand, der sie aus der Zeit vor Pappi kannte. Jemand, der Mutti kannte. Vielleicht war das der entscheidende Grund gewesen, daß sie Inge und Werner besuchte. Sie wollte mehr von Mutti wissen. Wie war sie vor Pappi gewesen? Warum hatte sie ausgerechnet diesen Mann geheiratet?
“Wir haben es alle nicht begriffen”, sagte Tante Inge. “Deine Mutter war eine schöne Frau. Und so fröhlich. Sie hätte andere haben können. Ich jedenfalls habe sofort gewußt, daß dieser verkrachte Zahnarzt aus der Tschechoslowakei kein Mann für sie war.” Sie hatte es gewußt, dachte Gaby. Nichts hatte sie gewußt. Er war ihnen allen zum Schicksal geworden. “Mutti hat immer gesagt”, erinnerte sich Gaby, “daß mein Vater ihn zu uns geschickt hat. Wenn du nach dem Krieg nicht weißt wohin, in Hamburg ist immer Platz für dich, hätte er ihm versprochen. Er hat es so gewollt, hatte Mutti dann leise gesagt. Vielleicht hat er geahnt, daß er nicht mehr aus dem Krieg zurückkommen würde. Schließlich waren die beiden Kriegskameraden.”
“Blödsinn.” Tante Inge schüttelte den Kopf. “Mein Bruder Ferdinand war ein feiner Kerl. Ehrlich und aufrecht. Der hätte sich nie mit so einem wie dem Anton richtig angefreundet. Vielleicht, daß er einmal gesagt hat, du kannst j a mal bei uns reinschauen, nach dem Krieg. Wie man das so sagt an der Front. Und der feine Herr hat die Gelegenheit beim Schopfe gegriffen. In die Tschechoslowakei wollte er nicht zurück. Und da dachte er wahrscheinlich, beim Ferdi könne er schon für kurze Zeit unterschlüpfen. Das war ja so ein gutmütiger Mensch. Na ja, und als er dann hörte, daß der gefallen sei, und daß da eine Witwe allein war, da hat er sich in das gemachte Bett gelegt.”
Gaby zuckte zusammen. Das hatte Achim auch gesagt. Vor beinahe dreißig Jahren. “Der weiß doch sonst nicht wohin. Hier legt er sich ins gemachte Bett.”
“Du meinst, mein Vater war nicht sein Freund?” Gaby hörte selbst, daß ihre Stimme belegt klang. Wenn das wahr war! Dann hatte Vater zumindest keine Schuld daran, daß Pappi sich bei ihnen eingenistet hatte. Daß er Mutti so unglücklich gemacht hatte. An all dem Unaussprechlichen.
“Ganz bestimmt nicht. Moment mal”, Tante Inge schlug sich mit der Hand vor die Stirn. “Ich habe noch etwas für dich.” Sie ging zu der Kommode in der Ecke und zog eine der großen Schubladen auf. Sie kramte darin herum und holte schließlich aus der hinteren Ecke einen vergilbten Schuhkarton hervor. “Hierin müßte es sein.” Sie nahm zwei in Seidenpapier gewickelte Päckchen hoch. “Ja, hier ist es.” Sie reichte Gaby einen Umschlag. “Mach auf, Kind. Der Umschlag wartet seit über dreißig Jahren auf dich.” Gaby sah sie erstaunt an. “Für mich? Ich begreife nicht...” Zögernd öffnete sie den Umschlag. Ein Foto fiel heraus. Es war ihr Vater. Er sah sehr jung aus und ein wenig linkisch in der zu großen Uniform und dem kurzen Haarschnitt. Sie drehte das Foto um. Sie las die zwei Sätze. Sie schienen kein Ende zu nehmen. Dann legte sie das Foto zurück in den Umschlag und schob ihn zur Seite.
“Ein schönes Foto?” fragte Hubert. “Nein”, sagte Gaby. “Wie ein Pennäler in der verkehrten Kluft.” Sie stützte die Arme auf den Tisch und verbarg ihren Kopf in ihren Händen. Warum hatte er nicht Wort gehalten? Warum war gerade er nicht aus dem Krieg zurückgekommen? Sie hätte gerne geweint. Tante Inge strich ihr über die Haare. “Er hat dich sehr geliebt, Kind.” Ja, das stand auf dem Foto. “Für meine geliebte Tochter Gaby. Die ich nach dem Krieg ganz fest in die Arme nehme...”
Wenn Jean von der Arbeit kam, ging Gaby oft mit Daniel zu ihr. Ihre Gespräche, während Jean dabei war, das Essen zuzubereiten, machten sie seltsam ruhig. Sie fühlte sich bei Jean nicht gefordert, kein Konkurrenzdenken kam in ihr auf. Anders als bei Dagmar und Ursel hatte sie bei der etwas älteren Holländerin nicht das Gefühl, sich ständig beweisen zu müssen.
Jean war Krankenschwester und arbeitete im Diakonissenkrankenhaus. Eine gute Hausfrau war sie nicht. Jedenfalls sagte sie das von sich selbst. “Der Haushalt und der ganze Kram kann mir gestohlen bleiben. Auf der Station, wenn ich von Zimmer zu Zimmer gehe, hier einen Verband erneuere, dort eine Spritze gebe oder auch nur ein Kissen aufschüttele, da habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden.” Gaby beneidete sie. Es mußte ein wunderbares Gefühl sein, wenn man gebraucht wurde.
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