Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
Vom Netzwerk:
Weltmittelpunkt zu sein. Daß nicht jedermann ihn anstiert, fällt ihm zu glauben schwer, und sagte ein Freund ihm jetzt das, was Zündel sich selbst einredet: nämlich, es gebe auf Erden wichtigeres Elend, so würde er antworten: Arschloch.
    Wirklich, der Intakte hat gut Sprüche klopfen. Sobald ihm die Haare ausfallen, pfeift auch er vorübergehend auf den Hunger in der Dritten Welt. Sobald ein Furunkel an seiner Wange wuchert, ist der ihm einstweilen näher als die Arbeiterklasse. - Wie war das damals mit Albert, der Zündel gegenüber einmal behauptet hatte, sein soziales Gewissen gebiete ihm einfach - ob er wolle oder nicht, ob er gesund sei oder krank -, täglich mindestens ein Flugblatt zu verteilen? Am Weihnachtsabend hatte sich
    Albert zur Freude seiner kleinen Neffen ein Gummiband straff um die Nase gewickelt, so daß diese sehr rot und knollenartig aus dem Gesicht loderte. Vielleicht fünf, höchstens zehn Minuten lang. Am ändern Morgen war Alberts Nase ein blaugrüner Bluterguß. Albert blieb für rund vierzehn Tage zu Hause und erklärte seinen Genossen telefonisch, er befinde sich in einer Phase theoretischer Besinnung. Also.

    Aber etwas essen möchte Zündel nun doch. Dann ein Hotel suchen. Dann schlafen. Planen erst morgen. Du vin rouge ou blanc? fragte der Kellner, obwohl Zündel seine Speisen auf italienisch bestellt hatte. Blanc, sagte er und bekam Roten. Das Fleisch war knorplig. Hat Zündel in einem Gasthaus je reklamiert? Einen fehlerhaften Wein, ein blutiges Schweinsschnitzel beanstandet oder gar zurückgewiesen? Nie! Vor dreizehn Jahren hatte Zündel in Sardinien - eingeschüchtert durch die familiäre Atmosphäre der Pension - einen von kleinen weißen Maden wimmelnden Schafskäse zur Hälfte aufgegessen. Zwar wurde ihm damals die Problematik anständigen Verhaltens zum ersten Mal bewußt, aber nennenswerte Folgen zeitigte das Erlebnis nicht. Kellner sind ja arme Teufel. Doch Hotelportiers! Die müßte man in Stücke reißen. Ihre Künste sind ausgereift. Fahr in eine Stadt, in der ein Bekannter wohnt, der dir Nachtquartier zusichert. Abends - spät, damit die Chance klein ist - geh dort in ein Hotel, frag nach einem Zimmer. Du bekommst es. Du bekommst eines, auch wenn die Stadt vor lauter Messen aus den Nähten platzt. Du bekommst das Zimmer, weil der Kerl an der Rezeption dir anriecht, daß du auf sein Zimmer nicht angewiesen bist. Umgekehrt: Du bist abgespannt, erledigt, zu allen Konzessionen hinsichtlich Zimmerkomfort (nach oben und unten) bereit. Nur nicht mehr lange suchen! Du kommst ins Hotel. Wirst gemustert. Wirst berochen. Wirst abge- wiesen. Nicht weil du staubig bist, nicht weil alle Betten belegt wären. Sondern weil der Kerl an der Rezeption dir anriecht, daß du auf Gnade hoffst.

    Seltsamerweise dachte Zündel erst nach der fünften Abweisung daran, daß es die Zahnlücke sein könnte, die ihn so gar nicht empfahl. Natürlich. Wie ärmlich das aussieht, wie verlottert, wie schwachsinnig wohl auch. Jedenfalls ist hier nicht mit Menschlichkeit zu rechnen. Zum Bahnhof, zum Bahnhof.

    Im Morgengrauen, kurz vor Mailand, taumelte Zündel verknittert zum WC. Ich bewege mich, der Zug bewegt sich, die Erde bewegt sich, und doch fehlt mir alle Beschwingtheit. Zündel pfiff. Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehn. Zündel dachte an seine Frau und an jenen Arzt, den er sich gesichtslos, aber stämmig vorstellte. Magda war Krankenschwester gewesen und er für kurze Zeit ihr erster Richtiger. Hartmut hieß dieser Typ, und der segelte und sie mit ihm.
    Auf dem halbrunden Schiebeschild an der WC-Tür stand: Occupato. Zum Zeichen, daß jemand wartete, drückte Zündel die Klinke. Die Tür ging auf, Zündel erschrak. Die Toilette war leer. Aber auf dem Boden, zwischen Klosett und Papierkorb direkt an der Wand, lag ein Finger. Zündel bückte sich ungläubig. Es war ein Menschenfinger, gelblich, verkrustet mit schwarzem Blut, der Nagel blau. Sofort spürte Zündel, daß er dieser Entdeckung nicht gewachsen war. Als er sich aufrichtete, erblickte er im Papierkorb eine Brieftasche. Er starrte sie an. Dann griff er nach einer Zigarette, gab ihr Feuer und dachte: Keep cool, boy. - Er nahm die Brieftasche aus dem Papierkorb. Es war seine, es war Zündels Brieftasche. Dann quietschten die Bremsen. Mailand.

    Ein Dutzend Fahrgäste stand Schlange im Büro der Mailänder Bahnpolizei. Lauter im Nachtzug Bestohlene. Handtaschen, Brieftaschen, Aktentaschen. Von Finger nichts. Die Frauen

Weitere Kostenlose Bücher