Zuendels Abgang
das offene Fenster und sprach in den dunklen Raum hinein: Das würde mich freuen, Konrad. Jetzt erst, als er von der Eckbank, auf der er gelegen hatte, aufsprang, sah ich ihn. Er trug die Zipfelmütze und eine knielange Wolljacke.
Zurück! schrie er gellend und griff nach der Pistole auf dem Tisch.
Ich bin's, sagte ich so ruhig ich konnte, ich bin's, wirst doch deinen Viktor noch kennen.
Scharf sagte er: Gekannt wird niemand, zurück, ich habe Schießbefehl.
Die Waffe war direkt auf mich gerichtet. Ich hatte Angst. Seine Augen blickten fremd.
Ich sagte: Der Schießbefehl gilt nur für deine Feinde, mich wirst du doch nicht wie einen räudigen Hund verjagen wollen.
Da schrie Konrad in einer furchtbaren Lautstärke: Laßt mich in Ruhe! Laßt mich!
Dann wandte er sich ab, legte die Pistole auf den Tisch und stand gebeugt und zitternd da. Frierst du? fragte ich. Jaja, natürlich, flüsterte er.
Komm, wir trinken eins, sagte ich, ich hab einen Walliser mitgebracht, weißt du, den 76er Pinot noir, magst du? Ich nahm die Flasche aus meiner Mappe und stellte sie auf das Fensterbrett. Sind sie schwer verwundet? fragte er. Wer?
Die Polizisten, sie wollten mich fangen! Kannst denken, beruhigte ich ihn, das waren zwei Pfleger aus der Klinik, und beide sind quicklebendig. Er sagte: Diese verfluchten Tollhäusler. Ich trat ins Stübchen und setzte mich auf einen Hocker. - Konrad, sagte ich, es ist keine Phrase: man will wirklich dein Bestes.
Im Wirtshaus, sagte er, im Wirtshaus hab ich einen reden gehört, am Nebentisch, einen Mann, so um die Sechzig, einen Stumpenmann, einen Hosenträgermann mit einem großen viereckigen Schweizergrind. Und die Kumpanen sahen aus wie er und haben ihm zugestimmt! Was hat er denn gesagt? fragte ich nach einer langen Pause. Er hat gesagt, er sei seinem seligen Vater noch heute dankbar dafür, daß er ihm dreimal pro Woche mit einem Kuhschwanz den nackten Hintern blau geschlagen habe. Na ja, sagte ich.
Na ja, sagte er, die Perversen hocken im Wirtshaus, und mich will man versorgen. Man will dich pflegen, erwiderte ich.
Hoho, sagte er.
Nimmst du ein Gläschen? fragte ich ihn. Geh jetzt bitte, sagte er, ich stehe unter Sprechverbot. Was hast du vor, Konrad?
Wüste oder Dschungel oder Meer oder Himmel, antwortete er.
Es waren die letzten Worte, die ich aus seinem Munde hörte.
Ich sagte: Gut, ich geh jetzt, und ich werde dafür sorgen, daß dich hier niemand behelligt, weder Polizei noch Klinik. Keine Antwort.
Magda läßt dich von Herzen grüßen, sie kommt dich besuchen, sobald sie kann, wahrscheinlich schon morgen. Keine Antwort.
Oder möchtest du für ein paar Tage zu mir kommen? Du wärest völlig frei, und Vroni würde sich freuen! Kopf schütteln.
Ich zeigte auf die Pistole und fragte: Darf ich das da mitnehmen? - Er reagierte nicht.
Zögernd griff ich nach der Waffe und legte sie in die Mappe.
Er schaute mir zu, ohne sich zu wehren. Also, sagte ich, leb wohl, Konrad, gib nicht auf, wir mögen dich, wir brauchen dich. Und denk dran: du bist mir und Vroni bei jeder Tages- und Nachtzeit willkommen.
Er sah mich an. Ich faßte ihn um die Schultern. Ich ging.
Als sich Magda anderntags (Donnerstagabend, 13. 8.) auf zittrigen Beinen dem Häuschen näherte - Oswald hätte ihr gern seinen Arm angeboten, mußte aber im Auto warten -, sang Konrad nicht. Tür und Fenster standen offen, Magdas schwaches Rufen blieb ohne Echo. Sie spürte sofort, daß er weg war.
In der Küche fand sie die Zipfelmütze, auf einem Fetzen Papier stand: Bis auf weiteres abwesend. -
Nach vier Tagen des Wartens sah Magda ein, daß sie sich gegen den üblichen Gang der Dinge nicht länger sträuben konnte: Am 18. 8. verlas das Radio die Vermißtmeldung, am 19. 8. wurde Interpol eingeschaltet.
Mitte September schrieb Hans Fischer aus Vancouver an Johanna Zündel, Konrad habe ihm ein »umfängliches Zeichen« geschickt, und zwar aus Genua, Poststempel 15. 8. - Es handle sich um einen »trapezförmigen Gipsklumpen« sowie um »allerlei Schriftstücke«, die Zeugnis ablegten von »allerlei Widerfahrnissen und Tendenzen des abgängigen Sohnes«. -Dies blieb die einzige Spur.
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