Zugzwang
unterirdischen Versteckes lagerten sie ihre Beute. Mit offenem Mund hörte David damals fast andächtig den Ausführungen seines Onkels zu. Nach einer Woche hatten sie es bedauert, abreisen zu müssen. Er beneidete seinen Bruder oft um sein ungezwungenes Leben.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Das heller gewordene, gleichmäßige Grau des Himmels konnte jeden Moment von den Sonnenstrahlen durchlöchert werden. Joshua sah zum Himmel, als fürchte er sich davor. Ihm war nicht nach Sonne. Die graue, triste Regenwelt kam seiner Stimmung entgegen.
Er dachte daran, sich vorübergehend ins Bahnhofshotel einzuquartieren, als sich sein Handy meldete. Hektisch zog er es aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er träumte kurz davon, Janine würde sich melden und von einem Missverständnis sprechen. Es fiel ihm schwer, seine Enttäuschung hinunter zu schlucken, als er die Stimme seines Chefs, Winfried Elsing, vernahm. An einem Autobahnrastplatz bei Moers hatte man eine männliche Leiche gefunden. Die Tatsache, dass diese ein Einschussloch in der Stirn aufwies, ließ ihn die geplante Zimmersuche vorläufig verschieben. Wütend steckte er sein Handy ein. Seit vier Monaten bearbeiteten sie nun alte, ungeklärte Fälle, wälzten von halb acht morgens bis nachmittags um vier angegilbte Akten. Ausgerechnet jetzt, da er selbst sein größter Fall war, musste etwas passieren. Janine hatte vergangene Woche zynisch den Wunsch geäußert, es möge endlich etwas geschehen. Seine Laune sei unerträglich. Vielleicht, so dachte Joshua, wäre Ablenkung im Moment genau das Richtige. Fast im selben Augenblick schämte er sich dafür. Da lag ein Mensch ermordet neben der Autobahn und für ihn war er nichts weiter als eine Abwechslung. Als er auf die Autobahn fuhr, blendete ihn ein Sonnenstrahl.
Weit vor der Abfahrt sah er die Blaulichter der Streifenwagen. Es war halb sieben, die letzten Wolken machten der Abendsonne Platz. Ein milder Frühlingswind kam von Westen auf. Die Dämmerung würde bald einsetzen. Am Rastplatz befanden sich bereits etliche Kollegen. Drei Gestalten in weißen Schutzanzügen suchten jeden Zentimeter nach Spuren ab. Als Joshua ausstieg, kam ihm sein Kollege Daniel van Bloom entgegen. Er lief dabei wie auf Eiern, immer wieder seinen Blick auf den Boden richtend. Daniels Eltern stammten aus Belgien, er selbst wurde hier geboren. Daniel achtete stets penibel auf sein Äußeres. Er trug einen langen dunklen Mantel über einem hellgrauen Anzug. Die Hosenbeine hatte er bis zu den Knien hochgekrempelt. Weißes Oberhemd, grau gemusterte Krawatte und gepflegte schwarze Halbschuhe, die nun doch in eine Pfütze eintauchten. Daniel war ebenfalls Hauptkommissar, allerdings ohne entsprechende Planstelle. Er kam im Januar zur Krefelder Mordkommission und wurde in dieser Dienststelle quasi zwischengelagert, wie er sich ausdrückte. Seitdem war er laufend damit beschäftigt, Versetzungsgesuche zu schreiben Dass der Lagerort die gegenüberliegende Seite seines Schreibtisches war, gefiel Joshua wenig. Dort saß Werner Verheugen bis zu seiner Pensionierung Ende letzten Jahres. Verheugen war so etwas wie der polizeiliche Ziehvater von Joshua, übernahm die alleinige Verantwortung. Er bewunderte den Scharfsinn und die Gelassenheit, mit der der erfahrene Kollege ihre Fälle anging. Dabei sah Verheugen sich selbst als kleines, unbedeutendes Rädchen des Polizeiapparates. In den ersten Tagen ohne ihn kam Joshua sich oft wie ein Artist vor, der ohne Netz am Trapez hing. Er musste sich so schnell wie möglich mit der neuen Situation arrangieren. Es fiel ihm schwer, vor allem mit der Eitelkeit des Kollegen kam er nicht zurecht.
»So ein verdammter Mist«, fluchte van Bloom auch gleich los.
»Was meinst du«, konterte Joshua, »dass deine Lackschühchen ein Spritzerchen abbekommen haben oder dass da vorne ein Toter liegt?«
»Haha, du könntest doch undercover bei den Bahnhofspennern ermitteln, ohne aufzufallen. Aber für diesen Fall wird die Mutti dich wohl fein machen müssen.«
Joshua konnte die verdammte Arroganz seines Kollegen nicht ausstehen. »Wieso, liegt da einer aus der Upperclass?«
»Kann man sagen. Ramon Schändler, achtundfünfzig Jahre, Multimillionär, Besitzer einer großen Werbeagentur in Düsseldorf. Ein LKW-Fahrer hat ihn gefunden. Musste mal in die Büsche und da sah er ihn liegen.«
Joshua antwortete nicht und ging zu Max Drescher von der Spurensicherung. Drescher schritt die Peripherie des Tatortes ab und
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