Zugzwang
hin. Ihm wurde klar, dieses Mädchen hatte womöglich völlig unbekümmert und fröhlich in ihrem Zimmer gesessen und Musik gehört, während unten im Wohnzimmer ihre Mutter erschossen worden war. Vom Tod ihres Vaters wusste sie natürlich ebenso wenig. Ohne Psychologin oder wenigstens einem Arzt sollte er jetzt nicht zu ihr gehen. Seine Kopfschmerzen ließen kein bisschen nach. Er musste sich zwingen, einen klaren Gedanken zu fassen. Verdammt, welche Möglichkeiten habe ich jetzt, hörte er sich flüstern. Wenn er das Grundstück verließ, um Hilfe zu holen, bestand die Gefahr, dass sie ihre tote Mutter fände. Außerdem war nicht auszuschließen, dass der Mörder sich noch im Haus befand. Er musste einen zweiten Telefonanschluss suchen. Doch dann schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, der ihn erschreckte. Da hat jemand beide Elternteile umgebracht und die Tochter am Leben gelassen. Das war sehr riskant, sie hätte etwas sehen können. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Der Täter wusste nicht, dass noch jemand im Haus war oder er war überrascht worden und hielt sich tatsächlich noch im Haus auf. In dem Moment verstummte die Musik und Joshua hörte Schritte, die bedrohlich näher kamen. Er kam nur bis zum Treppengeländer, als die Tür vor ihm aufging und eine hübsche junge Frau mit braunen Augen und schulterlangem, schwarzem Haar herauskam. Eine Sekunde verharrte sie stumm vor ihm und sah ihm in die Augen. In dieser Sekunde hob Joshua den linken Arm und wollte eine beschwichtigende Bewegung damit ausführen. Er kam nicht dazu. Die junge Frau stieß einen markerschütternden Schrei aus und sprang zurück in ihr Zimmer. Joshua wollte gerade zur Türklinke greifen, als er hörte, wie die Türe abgeschlossen wurde. Zunächst war er wütend, dann betrachtete er seine blutdurchtränkte Jeans und den wuchtigen Kerzenhalter, den er noch immer in seiner rechten Hand hielt. Dabei fiel ihm einer von van Blooms nervigen Sprüchen ein. Als er wieder einmal über das gestriegelte Äußere seines Kollegen herzog, meinte dieser, dass die Leute ihn wohl eher für den Täter als den Polizisten halten müssten. In diesem Fall würde van Bloom wohl Recht haben. Aber wie sollte es nun weitergehen? Wenn der Täter noch irgendwo im Haus wäre, war er durch diesen Schrei der Kleinen jetzt bestens über ihren Standort informiert und er selbst befand sich hier wie auf dem Präsentierteller. Joshua kämpfte gegen seine Schmerzen an und versuchte, logisch zu denken. Die offene Terrassentür sprach dafür, dass der Täter nach der Tat verschwunden war, die Lebendigkeit der potenziellen Zeugin sprach jedoch dagegen. Er vernahm die Stimme der Tochter und ging näher an die Tür. Joshua hörte etwas von Einbrecher und die Polizei solle so schnell wie möglich kommen. Er schrie sofort los:
»Sag ihnen, sie sollen die Spurensicherung mitbringen … und alle Zufahrtsstraßen absperren und …«, dann bemerkte er die Stille an der anderen Seite der Tür. Er klopfte dagegen und flehte sie an, zu öffnen. Sie schrie zurück, er solle verschwinden und die Polizei sei bereits unterwegs.
»Ich bin Polizist, bitte glauben Sie mir!«
»Klar und ich bin bei der Heilsarmee und jetzt verschwinde!«
Er zog seinen Dienstausweis aus der Gesäßtasche und schob ihn unter die Tür durch.
»Ruf noch einmal bei der Polizei an und erkundige dich nach mir. Sie werden dir meine Identität bestätigen. Aber beeile dich bitte! Wir sind beide in Gefahr!«
Einen Augenblick lang war es ruhig, schließlich drehte sich der Schlüssel und die Tür ging langsam auf.
»Okay. Aber Sie bleiben in der Tür stehen und kommen keinen Schritt näher, sonst …«
Sie nahm sich ein dickes Buch vom Schreibtisch und stellte sich neben ihren Korbsessel. Joshua trat einen halben Schritt ins Zimmer. Sie wollte gerade protestieren, als er sie mit einer Handbewegung beruhigte. Joshua atmete tief durch.
»Bei euch ist eingebrochen worden. Ich fuhr hier vorbei und habe die offene Haustüre gesehen.«
Es war unwahrscheinlich. Joshua hoffte, sie würde ihm glauben. Sie sah ihn mit großen Augen an und atmete hektisch. Ihre Augenlider zitterten. Sie wirkte unsicher, verkrampft.
Vom Tod ihrer Eltern wollte er nichts sagen. Joshua dachte daran, seine Kollegen so schnell wie möglich zu informieren. Der Täter konnte noch nicht weit sein. Sie mussten dringend alles weiträumig absperren. Sein Blick richtete sich auf ein Handy, das auf dem Schreibtisch lag. Ohne zu zögern lief er
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