Zuhause ist ueberall
und kennt ein paar tschechische Fachkollegen. Das sind Gelehrte, die er mag und schätzt, aber einander wechselseitig zu Hause besuchen – nein. Man trifft sich an drittem Ort, bei akademischen Veranstaltungen. Die jeweiligen Ehefrauen kennen einander nicht. Und die jeweiligen Kinder schon gar nicht. Von der blühenden tschechischen Kultur jener Jahre – in der Literatur, im Theater, in der Publizistik – bekommen wir denn auch wenig mit. Die Eltern gehen manchmal ins tschechische »Freie Theater«, um den hervorragenden Schauspieler Vlasta Burian zu sehen. Oder ins Nationaltheater, vor allem wenn Bedřich Smetanas »Verkaufte Braut« gegeben wird. Aber im Grunde gehören wir nicht dazu.
Die Tschechen, das sind für uns die »kleinen Leute«. Etwas unwiderstehlich Komisches haftet ihnen an. Man muss immer lachen über sie. Der derbe Witz ihrer Sprache ist eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Eigentlich alles, was man auf Tschechisch erzählt, ist komisch, schon dadurch allein wird eine Geschichte witzig. Etwas Erhabenes oder gar Pathetisches auf Tschechisch zu sagen ist praktisch unmöglich, und wenn es jemand versucht, ist es erst recht lächerlich.
Noch Jahrzehnte später, als ich auf einer Prager Bühne ein Shakespearestück auf Tschechisch sehe, muss ich eine gewisse Lachlust unterdrücken und mich fragen: Warum kommt es dir eigentlich komisch vor, wenn Hamlet tschechisch spricht und nicht englisch oder deutsch? Etwas von der alten österreichischen Herablassung gegenüber dem »Dienstbotenvolk« liegt in dieser Haltung, die die Deutschböhmen und Österreicher auch noch Generationen nach dem Zerfall der k.u.k. Monarchie verinnerlicht haben. Noch heute ist das Böhmakeln auf jeder Wiener Theaterbühne ein garantierter Lacherfolg. Andererseits ist der tschechische – wir sagen böhmische – Humor tatsächlich, wie der englische, etwas Besonderes: plebejisch und direkt, respektlos, immun gegen Prätentionen und vornehmes Getue. Und haarscharf treffend. Er ist die Waffe eines unterdrückten Volkes, in Jahrhunderten herausgebildet, gegen seine fremden Herren.
Die tschechische Prager Gesellschaft bleibt uns verschlossen, nicht aber die Stadt Prag. Mein Vater liebt die Stadt und kennt sie gut, und für mich ist sie von frühester Kindheit an etwas Wunderbares, Verzaubertes, ein Ort der tausend Geheimnisse und das Schönste, das ich kenne und das ich mir überhaupt vorstellen kann. Wir kommen als Kinder von unserer Bud’ánka aus nicht oft in die Innenstadt, aber wenn, dann ist das jedes Mal ein Fest. Unser Vater weiß zu jeder Straße, zu jedem Palais, zu jeder Kirche eine Geschichte. Ich nehme mir schon als kleines Mädchen fest vor: Wenn ich groß bin, will ich das auch wissen. Ich will jedes Haus und jeden Winkel kennen und jedes Geheimnis, das sich darin verbirgt. Ich will Prag »lernen«, bis ich es so »kann« wie jemand, der hier so heimisch ist wie unsere Schildkröte in unserem Garten.
Und ich bin süchtig nach den vielen Prager Sagen und Legenden, die sich um praktisch jeden Ort in der Stadt ranken. Von den Goldmachern, die im Goldmachergässchen auf dem Hradschin im Auftrag des Kaisers Rudolf II. unermüdlich versuchen, Gold herzustellen. Vom Ritter Dalibor, der in der Daliborka, dem Hradschinturm, schmachtet und sich nach seiner Liebsten sehnt. Vom guten Pferd Šemík, das vom hohen Vyšehrad-Felsen in die Moldau springt und seinen Reiter, einen gefangenen Ritter, so vor dem Tode rettet.
Die meisten Bekannten unserer Eltern wohnen auf der Kleinseite, dem alten Stadtteil am linken Moldauufer. Hier wimmelt es von barocken Palais, die in jenen Jahren vielfach noch von den ursprünglichen Adelsfamilien bewohnt werden, die sie erbaut hatten. Das größte und prächtigste von ihnen ist das Palais Waldstein, einst Wohnsitz des großen Wallenstein. Jetzt gehört es dessen Nachfahren Onkel Kari Waldstein, einem der besten Freunde der Eltern. Die Waldsteins haben sechs Kinder in unserem Alter, und wir dürfen gelegentlich gemeinsam mit ihnen im herrlichen Waldsteingarten spielen. Irgendwo im Palais wohnt auch noch die uralte Tante Marinka Waldstein, die, als 1939 die Deutschen einmarschieren, lakonisch erklärt: 1866 sind sie von der anderen Seite gekommen.
Ein anderes Kleinseitner Ziel unserer Kinderzeit ist die Thomaskirche, ein schöner gotischer Bau unweit der Karlsbrücke. Hier ist P. Paulus Sladek der Pfarrer, ein Augustiner Chorherr, berühmter Prediger und Mentor der Prager deutschen
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