Zuhause ist ueberall
kommt darauf an, in die Fahrtrichtung zu springen und beim Aufsetzen ein paar Schritte zu laufen, den Schwung des Sprungs fortsetzend. Eine weitere kleine Mutprobe: eine Fünfzig-Heller-Münze auf die Schiene legen und warten, bis die Elektrische drüberfährt. Danach ist das Geldstück dünn und spiegelglatt.
Man kann aber auch eine Station früher aussteigen, am Eingang in die Klamovka. Diese hat ihren Namen von der aristokratischen Familie Clam, in deren Besitz das Areal früher war. Gleich hinter dem Eingang steht eine winzige Kapelle, die immer geschlossen ist. Aber in der Tür ist ein Gitter, und durch dieses kann man, stellt man sich auf die Zehenspitzen, den gewölbten Plafond sehen, blau, besät mit goldenen Sternlein. Ich versäume es nie, beim Vorbeigehen einen Blick auf diesen kleinen Sternenhimmel zu werfen. Es ist wie ein Blick in den richtigen Himmel, eine Art Vorgeschmack auf die himmlische Herrlichkeit, wo der liebe Gott und die Engel wohnen.
Die Klamovka ist der Schauplatz unserer kleineren Spaziergänge. Schöne große Kastanienbäume gibt es hier und viel Flieder, der im Frühling wunderbar blüht. Mittendrin steht die Sokolovna, das Heim des tschechischen Jugendverbandes Sokol. Sokol heißt Falke. Bis zum Einmarsch der Deutschen 1939 gehen hier die Sokol-Buben ein und aus, mit ihren runden Mützen mit dem roten Punkt in der Mitte. Der Sokol ist der deutschen Turnerbewegung nachempfunden, seine Mitglieder sind patriotisch, sportlich und stolz. Kurz vor dem Ende der unabhängigen Tschechoslowakei gibt es in Prag ein großes Turnerfest, den Slet, ein Treffen aller Falken aus der ganzen Republik, die im Stadion ihre Künste vorführen. Sie turnen präzise, wie ein riesiges bewegtes Bild sehen sie aus, wenn sie in Massen in perfektem Gleichklang sich strecken, beugen, schreiten und drehen. Aber wir haben damit nichts zu tun. Wir deutschen Kinder erleben all das nur aus der Ferne.
Die Sokol-Buben sind eine der wenigen Erinnerungen, die mir an die Zeit der tschechoslowakischen Republik geblieben sind. Mein erstes Volksschuljahr fällt in diese Epoche. Wir sind tschechoslowakische Bürger, gehören aber der deutschen Minderheit an. Wir gehen in die deutsche Schule und lernen dort die tschechische und die slowakische Hymne jeweils in deutscher Sprache. »Wo ist mein Heim, mein Vaterland«, singen wir und danach: »Auf der Tatra blitzt und dröhnt und donnerkracht es.« Auf der ersten Seite im Lesebuch ist das Bild von Tomáš G. Masaryk zu sehen, dem allseits verehrten Gründervater der Tschechoslowakischen Republik.
Meine Eltern sind loyale Bürger dieser Republik, aber sie fühlen sich, wie die meisten Deutschböhmen, innerlich nicht als Tschechoslowaken. Unser Vater bezeichnet diese Menschen später in den Worten des britischen Historikers Arnold Toynbee als »a group in a society, but not of it«. Vom Aufbau des jungen Staates, für die meisten Tschechen ihrer Generation eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs, bekommen sie wenig mit.
Prag ist die Hauptstadt eines unabhängigen Staates und beherbergt viele ausländische Gesandtschaften, in denen meine Eltern verkehren. Der Schweizer Gesandte und seine amerikanische Frau sind gute Freunde der Eltern, wir sehen sie oft. Und auch in der österreichischen Gesandtschaft sind Papi und Mami oft eingeladen. Der österreichische Gesandte Ferdinand Marek, der später in einem sowjetischen Lager stirbt, vor allem aber seine Frau sind uns Kindern ein Begriff. Diese Dame, die bei diplomatischen Gesellschaften intellektuelle Gespräche liebt, wird von meinem Vater oft mit leiser Ironie zitiert, sie ist für ihn der Inbegriff des Blaustrumpfs. Als sie ihn bei einem Botschaftsempfang einmal einem anderen Gast vorstellt, fügt sie erklärend hinzu: »Ein Graf, und doch gescheit.« Dieser Ausspruch wird bei uns zum geflügelten Wort.
Einmal, als ich in Begleitung der Buben in der Stadt bin, laufe ich unbedacht über die Straße und werde von einem noblen Auto angefahren. Es ist nicht viel passiert, ich habe nur ein paar Kratzer davongetragen. Aber anderntags kommt die Besitzerin des Wagens zu uns nach Hause und bringt mir zum Trost eine Riesenschachtel herrlichster Pralinen mit. Es ist, wie sich herausstellt, die Frau des amerikanischen Gesandten in der Tschechoslowakei.
Tschechische Freunde haben wir nicht, weder wir Kinder noch meine Eltern. Diese sind keineswegs antitschechisch, aber die tschechische Mehrheit und die deutsche Minderheit leben in jenen Jahren
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