Zuhause ist ueberall
vorübergeht? Ich bücke mich und tue so, als ob ich meine Schuhbänder neu binden müsste. Und schaue dann, dass ich von hier wegkomme.
Beim Heimfahren weiß ich: Mit einem Blick auf unser Haus komme ich der Vergangenheit nicht bei. Und momentan will ich das auch gar nicht. Ich habe mit der Gegenwart genug zu tun. Aber irgendwann wird der Augenblick kommen, an dem das Vergangene wieder gegenwärtig wird.
Ria, die Kindsfrau
Die erste Person, die auftaucht, wenn ich mich an meine frühesten Kinderjahre zu erinnern versuche, ist Ria. Da steht sie: eine hochgewachsene, hagere Frau mit kurzgeschnittenen Haaren. Sie ist unser Kindermädchen oder, wie wir sagen, unsere Kindsfrau. Sie ist auch kein Mädchen, sondern eine gestandene Person. Sie stammt aus Südmähren. Sie liebt mich sehr, und ich liebe sie. Wenn meine Mutter da ist, zu meinem Bett kommt und gute Nacht sagt, duftend und zum Ausgehen schöngemacht, ist das wunderbar. Aber Ria ist die Allerwichtigste. Sie ist immer da. Ihr erzähle ich alles, was ich erlebe, was mich bedrückt und was mich froh macht. Ganz normal, dass man die Kindsfrau lieber hat als die Mutter, sagt meine Mutter. In ihrer eigenen Kindheit war das genau so.
Meine Mutter ist eine kleine, zarte Frau, zart, aber zäh. Als junges Mädchen war sie bildhübsch, eine blonde Elfe mit wunderschönen blauen Augen. Sie macht, was sie will. Sie ist nicht nur tapfer, sie ist furchtlos. Sie weiß einfach nicht, was Angst ist, sagt mein Vater über sie. Sie heißt Sophie, aber ihre Geschwister nennen sie »Exzellenza«. Sie raucht wie ein Schlot, und wenn sie die Zigarette abdämpfen will, wirft sie sie in einen mit Wasser gefüllten grünglasierten Keramiktopf, der auf dem Tisch im Salon steht. Es macht pschscht, ein charakteristisches Geräusch wie kein anderes. Das tut sie, damit es nicht stinkt, denn mein Vater mag keinen Zigarettenrauch.
Mutter Sophie mit den Kindern Jakob (links), Barbara und Hans Heinrich (rechts), Mitte der dreißiger Jahre
Meine Mutter ist nicht eitel, sie macht sich nichts aus Mode. Sie mag auch keine Liebesgeschichten. »L’amour, c’est pour les femmes de chambre«, zitiert sie. Trotzdem liebt sie meinen Vater, aber sie macht kein Getue dabei. Sentimentalität ist ihr ein Gräuel. Was sie auch nicht mag, ist Langeweile. Wenn es im Kino langweilig wird, steht sie sofort auf und geht. Sie ist auch ungeduldig mit langweiligen Menschen, ist aber begeistert, wenn sie auf jemanden trifft, der ihr interessant vorkommt. Dann kann sie stundenlang zuhören und gar nicht genug kriegen von dem, was dieser oder diese zu erzählen hat. Ob er oder sie prominent ist, interessiert sie überhaupt nicht. Sie hat eine Nase für Authentizität und merkt sofort, ob jemand echt ist oder nicht. Wenn nicht, hat dieser Jemand augenblicklich verloren. Sie selber ist durch und durch echt.
Aber sie entspricht leider nicht dem, was in meiner Volksschulzeit als Ideal einer deutschen Mutter gilt. Kinder sind Konformisten. Sie wollen nicht originell sein, sondern so wie alle andern. Und bei uns ist es eben nicht so wie bei allen andern. Es fängt schon damit an, dass meine Mutter Mami genannt wird und nicht Mutti. In unseren Lesebüchern heißt es Mutti. Die Lesebücher und unsere Lehrerin wissen auch genau, wie in einem ordentlichen deutschen Haushalt der Muttertag zu feiern ist. Mein Dilemma: Meine Mami hasst den Muttertag, daher wird dieser bei uns auch nicht begangen. Wir müssen einen Aufsatz darüber schreiben, und mir bleibt nichts anderes übrig, als schamlos zu lügen. In meinem Aufsatz bringen wir Kinder unserer Mutti das Frühstück ans Bett, sagen für sie ein Gedicht auf und singen ein Lied. Gelogen, gelogen, gelogen. Aber die Wahrheit kann ich unmöglich schreiben oder sagen.
Meine Mutter hat vier Kinder und ist daher anspruchsberechtigt für das Mutterkreuz dritter Klasse. Ab fünf Kindern bekommt man die zweite Klasse und ab sieben die erste. Der Blockwart kommt zu uns nach Hause und will Mami die Auszeichnung feierlich überreichen. Aber aus der Feierlichkeit wird nichts. Mami nimmt das Kreuz mit knapper Höflichkeit entgegen, komplimentiert den etwas verwirrten Überbringer hinaus und feuert, sobald sich die Tür hinter diesem geschlossen hat, das kostbare Kleinod augenblicklich in den Papierkorb.
Sofort stürzen mein kleiner Bruder und ich uns auf diesen und ziehen das gute Stück im Triumph wieder heraus. Es ist ein ganz hübsches Ding, blaues Email mit Goldrand. Man könnte es an
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