Zuhause ist ueberall
Gesträuch zugewachsen ist. Wir dürfen nicht zum Steinbruch hinuntersteigen, denn im Steinbruch wohnt der Felsenmann. Das ist eine von Mythen umrankte Gestalt, über die ich mir natürlich auch eine romantische Geschichte zurechtgelegt habe. Vielleicht ist der Felsenmann ein Unglücklicher, der nach einer enttäuschten Liebe ein Leben als Einsiedler gewählt hat. Vielleicht ist er ein internationaler Verbrecher, gesucht von der Polizei vieler Länder, der hier in unserem Steinbruch Unterschlupf gefunden hat. Oder ein Büßer wie der heilige Hieronymus im Gehäus.
Wie der Felsenmann wirklich heißt, weiß niemand. Auch seine Geschichte kennt keiner. Man weiß nur, dass er im Steinbruch lebt und die Menschen meidet. Ihn selbst bekommen wir beim Vorbeigehen fast nie zu Gesicht. Er ist ein struppiger Geselle, und wir fürchten uns ein wenig vor ihm. Noch mehr als ihn fürchten wir seinen Hund, einen großen Schäfer. Der hängt an einer langen Leine, die ihrerseits mit einem Draht verbunden ist. Der Draht ist über den ganzen Steinbruch gespannt, sodass der Hund das Gelände bewachen und alle Eindringlinge verjagen kann. Wir hören ihn bellen und knurren. Auch wenn wir es gedurft hätten, nie hätten Michi und ich es gewagt, ins Reich des Felsenmannes vorzudringen. Die Buben freilich, kühn wie sie sind, haben ihn einmal besucht. Er sei sehr nett gewesen, berichten sie nachher. Er wohne in einer Art Höhle. Sie seien mit ihm vor der Höhle gesessen und hätten mit ihm gemeinsam ihr Jausenbrot verzehrt. Der Hund war auch dabei.
Wenn man von unserem Haus aus den Weg auf die andere Seite einschlägt, kommt man zu einem kleinen Wald, einem schütteren Laubwald, und mitten in diesem Wald liegt ein Felsen, den die Buben Devil’s Head getauft haben. Man steigt über rutschige Tannennadeln zum höchsten Punkt des Waldes und steht plötzlich vor einem kleinen Abgrund. Eine Felswand fällt ein paar Meter ab. Und in dieser Felswand gibt es eine Höhle. Zum Devil’s Head gehe ich ohne Fräulein, mit den Buben. Wir klettern auf der Felswand herum, sie ist nicht hoch. Niemand außer uns, denke ich mir, kennt die Höhle. Sie ist so groß, dass ein Kind gerade darin stehen kann. Ich stelle mir vor, wie ich, wenn Gefahr droht, mich in dieser Höhle verstecke, nur von Bimbi dem Bären begleitet. Wir schlafen auch dort. In der Nacht ist es ein bisschen unheimlich, aber doch auch kuschelig. Wir haben Proviant mit und eine Decke. Wir sehen in der Ferne das Licht von Taschenlampen und hören Rufe. Unsere Häscher suchen uns. Aber vergeblich, hier kann uns niemand finden. Wir sind allein in der Wildnis, wie in dem Buch »Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund«. In diesem Traum sind wir stark und furchtlos, wie in allen ausgedachten Geschichten.
Viele Jahre später habe ich einmal den Steinbruch und den Wald mit dem Felsen noch einmal aufgesucht. Ich erkannte die Gegend kaum wieder: Der Steinbruch war zugebaut, eine Siedlung war dort entstanden. Aus dem Wald mit dem Devil’s Head war ein öffentlicher Park geworden, mit Kinderspielplätzen und gepflegten Wegen. Die Wildnis unserer Kindheit, die wohl auch damals nicht ganz so wild war wie in meiner Erinnerung, gab es nicht mehr.
Unser Viertel, die Bud’ánka, liegt auf einer Anhöhe. Eine lange Stiege, mit vielen Stufen und vielen Windungen, führt hinunter zur Pilsner Straße, der Plzeňská ulice, der Hauptverkehrsader des Bezirks Smíchov. Smíchov ist ein Industrie- und Arbeiterbezirk, hier liegen die Ringhoffer Werke. Oben auf der Bud’ánka ist es grün und frisch, unten ist es grau und staubig. Will man in die Innenstadt, muss man entweder die lange Stiege hinuntersteigen oder den noch längeren Weg durch den Klamovka-Park nehmen und dann in die Straßenbahn einsteigen. Wir sagen: die Elektrische.
Die Linie 9 und die Linie 15 fahren stadteinwärts, und diese nehmen wir auch, um in die Schule zu kommen. Nur wenn das Wetter schön ist, nehmen wir das Fahrrad. Wir haben unseren Schülerausweis, die Legitimation, die wir kurz »Leggi« nennen. Hast du deine Leggi mit?, werden wir in der Früh gefragt. Der Neuner und der Fünfzehner halten leider nicht am Aufgang zu unserer Stiege. Es gehört daher zum guten Ton, an der richtigen Stelle aus der fahrenden Elektrischen herauszuspringen. Es ist nicht schwer, die Bahn verlangsamt in der Kurve ihre Fahrt, und automatische Türen gibt es noch nicht. Man steht auf der offenen Plattform, gibt sich einen kleinen Mut-Anstoß und springt. Es
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