Zuhause ist ueberall
Panik erfasst mich. Hastig verabschiede ich mich vom verblüfften und enttäuschten Engele und renne hinaus, froh, wieder draußen zu stehen auf dem sonnigen Platz. Nichts wie nach Hause. Und natürlich verirre ich mich auf dem Heimweg auch noch in dem Labyrinth von winkligen Gassen und Gässchen des Viertels.
Die Neustadt mit dem Wenzelsplatz ist wieder ein anderes Kapitel. Hier ist das deutsche Gymnasium, wo die Buben hingehen. Hier sind die großen Kinos, die sie leidenschaftlich gern besuchen. Einmal darf auch ich mitgehen und Walt Disneys »Schneewittchen« sehen, in tschechischer Sprache. Der kleinste Zwerg heißt tschechisch Šmudla, so nennen wir, was er gar nicht mag, gelegentlich meinen jüngsten Bruder Michi. Auf dem Wenzelsplatz gibt es auch das Automatenbuffet Koruna, wo man um fünfzig Heller ein wunderbares Sandwich kaufen kann. Eine Vitrine dreht sich und gibt das belegte Brötchen preis. Ein Wunderwerk der Moderne. Die Buben wissen einen bestimmten Trick, der bewirkt, dass die Maschine gleich zwei Brötchen ausspuckt. Auf der Národní třída, der vornehmsten Einkaufsstraße, sind auch die Escompte Bank und die deutsche Buchhandlung André. Dort macht meine Mutter Besorgungen, »Kommissionen«, wie sie das nennt, und manchmal begleite ich sie dabei.
Prag richtig kennenzulernen und durch dessen Straßen zu strabanzen ist der Traum meiner Kindheit. Erst im letzten Jahr vor unserer Vertreibung wird er wahr. Ich bin schon im Gymnasium, dem Fräulein entwachsen. Nach der Schule oder auch am Nachmittag streife ich durch meine Lieblingsgegenden, mit einer Freundin oder, noch lieber, allein. Durch den Seminargarten hinauf zum Strahover Kloster. Der Flieder blüht dort in üppigen Dolden, sein Duft begleitet einen den ganzen Weg. Auf den Laurenziberg. Über die große Stiege zum Hradschin. Nahe dem Kleinseitner Ring gibt es eine kleine Kunsthandlung, dort kaufe ich von meinem Taschengeld eine Fotoreproduktion des Bamberger Reiters und eine von der Skulptur des Engels auf dem Naumburger Dom. Diese gotische Jünglingsfigur ist ein Lieblingsmotiv der Nazis, Inbegriff germanischer Schönheit. Aber auch mir gefällt dieser ernste junge Mann. Ich lasse das Foto rahmen und hänge es über mein Bett.
Es ist eine Art Erwachen, das ich als Zwölfjährige in jenem Frühjahr erlebe, ein Gewahrwerden der Schönheit der Welt, der Möglichkeiten, die sie bietet, der Verheißungen des Erwachsenwerdens. Ist es eine Vorahnung dessen, was kommen wird? Ich stehe auf der Smíchover Brücke und schaue hinüber auf das berühmte Panorama mit dem Hradschin. Es ist ein Schlüsselmoment, der sich mir einprägt. Schau dir das gut an. Vergiss es nicht. So etwas Schönes, sage ich mir ganz bewusst, wirst du nie, nie, nie mehr sehen.
Wenig später verlassen wir Prag, und es wird Jahre dauern, bis ich wieder an dieser Stelle stehe.
Ein Schloss in Böhmen
Den Sommer und alle Ferien verbringen wir bei unseren Großeltern auf dem Lande, in Breznitz. Jakob und auch Michi sind die Breznitzer, die das Landleben lieben. Hans Heinrich und ich sind die Prager, die überzeugten Stadtbewohner. Trotzdem ist Breznitz selbstverständlicher Teil unseres Lebens, vor allem für Michi und mich, die Kleinen. Samt Fräulein werden wir dort deponiert, wenn die Eltern anderswohin fahren. Meistens holt Herr Vošahlík, der Chauffeur meines Großvaters, uns mit dem Auto ab. Wenn sich unser Ziel nähert, lauern wir gespannt auf die wohlbekannte Kurve, an der der Turm des Breznitzer Schlosses zum ersten Mal sichtbar wird. Dann muss man rufen: »Der Turm, der Turm, ich seh den Turm.« Wer zuerst schreit, hat gewonnen.
Schloss und Herrschaft Breznitz gehören den Pálffys, der Familie meiner Mutter. Diese stammt aus Westungarn, der heutigen Slowakei. Die Pálffys waren vor allem Haudegen und Türkenbekämpfer, in der Schlacht von Mohács 1526, höre ich, sind 21 Mitglieder der Familie gefallen. Es blieben aber immer noch genug übrig. Sie waren, anders als andere ungarische Magnaten, traditionell habsburgtreu. Als die spätere Kaiserin Maria Theresia mit dem kleinen Joseph auf dem Arm nach Pressburg kam, um die Hilfe der Magyaren gegen die Preußen zu erbitten, war es der damalige Palatin Pálffy, der ausrief: »Vivat unser König Maria Theresia«, und seine Standesgenossen damit mitriss. Das Bild von diesem Ereignis ist in meinem Geschichtsbuch zu sehen, und es gefällt mir sehr.
Die Pálffys sind keine angestammten Böhmen, erst vor drei Generationen hat
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