Zum ersten Mal verliebt
längere Zeit vor sich hin gewinselt haben musste und nun zornig war, weil ihn keiner gehört hatte. Wenn er so schrie, dann machte er seine Sache gründlich. Rilla wusste, dass es keinen Sinn hatte, ruhig sitzen zu bleiben und so zu tun, als hätte sie ihn nicht gehört. Er würde nicht aufhören. Und an eine Unterhaltung war erst recht nicht zu denken, wenn solch ein durchdringendes Geschrei und Geheule sich auf ihre Köpfe herabsenkte. Außerdem befürchtete Rilla, Kenneth würde sie womöglich für gefühlskalt halten, wenn sie einfach sitzen blieb und ein Baby dermaßen schreien ließ. Es war ja nicht gerade wahrscheinlich, dass er mit Morgans unschätzbarem Ratgeber vertraut war.
Sie stand auf. »Jims hat wahrscheinlich einen Alptraum gehabt. Das kommt manchmal vor und dann bekommt er immer schreckliche Angst. Entschuldige mich einen Augenblick.«
Rilla hastete die Treppe hinauf und verwünschte insgeheim die irrsinnige Erfindung der Suppenschüssel. Aber als Jims sie erblickte und seine kleinen Arme flehend nach ihr ausstreckte und mehrere Schluchzer hinunterschlucken musste, während ihm die Tränen über die Wangen rollten, da wurde ihr Herz wieder weich. Wo doch das arme kleine Schätzchen solche Angst hatte! Sie nahm ihn sachte aus dem Bettchen und schaukelte ihn sanft, bis er aufhörte zu schluchzen und die Augen zumachte. Dann versuchte sie ihn in sein Bettchen zurückzulegen. Jims öffnete die Augen und protestierte kreischend. Das gleiche Spiel wiederholte sich zweimal. Rilla war der Verzweiflung nahe. Sie konnte Ken nicht länger dort unten allein lassen, schließlich war sie schon fast eine halbe Stunde weg. Resigniert marschierte sie hinunter, Jims auf dem Arm, und setzte sich wieder auf die Veranda. Lächerlich, mit so einem widerspenstigen Kriegsbaby dazusitzen, während der Liebste seinen Abschiedsbesuch macht! Aber es war nun mal nicht zu ändern.
Jims war überglücklich. Er strampelte begeistert mit seinen nackten Füßchen, die unter dem weißen Nachthemd hervorlugten, und lachte sie an. Langsam wurde aus ihm ein sehr hübsches Baby. Er hatte goldenes Haar, das in seidigen Löckchen sein rundes Gesicht umrahmte, und sehr schöne Augen. »Sieht ganz nett aus, der Kleine, findest du nicht?«, sagte Ken. »Ja, er sieht ganz gut aus«, meinte Rilla fast beleidigt. Es gab doch wohl kaum ein schöneres Baby! Jims spürte offensichtlich, dass etwas in der Luft lag und dass es an ihm lag, die Sache zu bereinigen. Er schaute zu Rilla auf, setzte ein zauberhaftes Lächeln auf und säuselte klar und deutlich: »Will - Will.« Es war das erste Mal, dass er ein Wort sprach oder zu sprechen versuchte. Rilla war so entzückt, dass sie ihren Groll vergaß. Sie vergab ihm, indem sie ihn fest umarmte und küsste. Jims verstand, dass sie nicht mehr böse war, und schmiegte sich eng an sie. Ein Lichtstrahl der Wohnzimmerlampe fiel auf sein Haar herab und ließ es wie einen goldenen Kranz an ihrer Brust schimmern.
Kenneth saß ganz still da und schaute Rilla schweigend an: ihre zarte, mädchenhafte Silhouette, ihre langen Wimpern, das Grübchen in ihrer Lippe, ihr bezauberndes Kinn. Wie sie so dasaß im blassen Mondlicht und den Kopf über Jims gebeugt hielt, glitzerten und funkelten ihre Perlen im Licht der Lampe wie ein Strahlenkranz, und sie erinnerte ihn haargenau an das Bild der Madonna, das zu Hause über dem Schreibtisch seiner Mutter hing. Dieses Bild trug er mit sich im Herzen zu den schrecklichen Schlachtfeldern nach Frankreich. Rilla Blythe war ihm seit dem Tanzabend in Four Winds nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Aber erst jetzt, als er sie so dasitzen sah mit dem kleinen Jims im Arm, wurde ihm klar, dass er sie liebte. Währenddessen war die arme Rilla zutiefst geknickt und hatte das Gefühl, dass ihr letzter Abend mit Ken nun verdorben war. Warum bloß musste immer alles anders kommen, als man es sich vorstellte? Sie kam sich so lächerlich vor, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Ken hatte anscheinend auch die Nase voll oder warum sonst hockte er da wie versteinert? Für einen Augenblick schöpfte Rilla wieder Hoffnung, als Jims tief und fest eingeschlafen war. Sie hielt es für das Beste ihn im Wohnzimmer aufs Sofa zu legen. Kaum kam sie wieder heraus auf die Veranda, saß Susan da. Sie löste die Bänder ihrer Haube, sodass es ganz den Anschein hatte, als gedächte sie länger hier zu verweilen.
»Na, hast du es geschafft dein Baby zu beruhigen?«, fragte sie freundlich.
Dein Baby!
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