Zum ersten Mal verliebt
Gesprächen oder einfach nur schweigend miteinander verbrachten. Walter gehörte ihr allein, und sie wusste, dass sie ihm mit ihrem Mitgefühl und Verständnis Kraft und Trost gab. Es war wunderbar zu wissen, dass sie ihm so viel bedeutete, und dieses Wissen half ihr über Augenblicke hinweg, die sonst unerträglich gewesen wären. Es gab ihr die Kraft zu lächeln, ja, manchmal sogar ein wenig zu lachen. Wenn Walter fort war, würde sie möglicherweise ihren Gefühlen freien Lauf lassen und weinen, aber nicht jetzt, solange er da war. Sie ließ es noch nicht einmal zu, dass sie nachts weinte, damit ihre Augen sie nicht am nächsten Morgen verrieten.
An seinem letzten Abend gingen sie zusammen ins Regenbogental und setzten sich am Ufer des Baches unter der »Weißen Dame« nieder, dort, wo sie in den wolkenlosen Jahren ihrer Kindheit so unbeschwert gespielt hatten. Das Regenbogental war an diesem Abend überdacht von einem ungewöhnlich leuchtenden Abendrot. Ihm folgte eine wunderbare graue Dämmerung mit einem Hauch von Sternenlicht. Und dann kam der Mond. Er winkte, versteckte sich und tauchte wieder auf, erhellte kleine Gruben und Höhlen und ließ andere in dunklem, samtigem Schatten.
»Wenn ich >irgendwo in Frankreich bin«, sagte Walter, während er sehnsüchtig all die Schönheit um sich herum betrachtete, »dann werde ich an diese stillen, taubedeckten, mondgetränkten Plätze denken. An den würzigen Duft der Tannen, an die friedlichen kleinen Mondseen, an die Kraft der Hügel. Rilla! Sieh dir nur diese alten Hügel um uns herum an. Diese Hügel, zu denen wir als Kinder aufgeschaut und uns gefragt haben, was für eine großartige Welt wohl dahinter auf uns wartet. Wie ruhig und stark sie sind, wie geduldig und beständig. Wie das Herz einer guten Frau. Rilla-meine-Rilla, weißt du eigentlich, wie viel du mir dieses letzte Jahr bedeutet hast? Ich will es dir sagen, bevor ich gehe: Ohne dich hätte ich diese Zeit nicht durchgestanden. Du hast an mich geglaubt, mein kleines, liebes Schwesterherz.«
Rilla wagte nicht zu sprechen. Sie ließ ihre Hand in Walters gleiten und drückte sie ganz fest.
»Und wenn ich da drüben bin, Rilla, in dieser Hölle auf Erden, von Menschen geschaffen, die Gott vergessen haben, dann werde ich an dich denken, und nichts wird mir mehr helfen als dieser Gedanke. Ich weiß, du wirst genauso mutig und geduldig sein, wie du es in diesem vergangenen Jahr gewesen bist. Ich habe keine Angst um dich. Egal, was passiert, ich weiß, du bist Rilla-meine-Rilla. Egal, was passiert.«
Rilla unterdrückte ihre Tränen, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. Walter wusste, dass er genug gesagt hatte. Nach einem Augenblick des Schweigens, in dem jeder dem anderen ein unausgesprochenes Versprechen gab, sagte er: »Und jetzt lass uns nicht länger traurig sein. Lass uns einfach die Zeit überfliegen. Lass uns an das Ende des Krieges denken, wenn Jem, Jerry und ich nach Hause zurückmarschieren und wir alle wieder glücklich vereint sind.«
»Wir werden nicht mehr - auf dieselbe Weise - gücklich sein«, sagte Rilla stockend.
»Nein, nicht auf dieselbe Weise. Niemand, den dieser Krieg berührt hat, wird je wieder auf dieselbe Weise glücklich sein. Aber, meine kleine Schwester, ich glaube, es wird ein besseres Glück sein, ein Glück, das wir verdient haben. Wir waren schon sehr glücklich vor dem Krieg, nicht wahr? Mit einem Haus wie Ingleside und mit so einem Vater und so einer Mutter muss man einfach glücklich sein. Aber dieses Glück war ein Geschenk des Lebens und der Liebe. Es gehörte nicht wirklich uns, das Leben hätte es uns jederzeit wieder wegnehmen können. Aber es kann uns niemals das Glück wegnehmen, das wir erlangt haben, indem wir unsere Pflicht getan haben. Darüber bin ich mir klar geworden, seit ich diese Uniform trage. Trotz meiner immer wiederkehrenden Angst vor dem, was auf mich zukommt, bin ich glücklich seit jenem Abend damals im Mai. Rilla, sei sehr lieb zu Mutter, während ich weg bin. Es muss furchtbar sein, in diesem Krieg eine Mutter zu sein. Die Mütter, die Schwestern, die Ehefrauen und die Geliebten haben es am schwersten. Rilla, du kleine Schönheit, bist du denn jemandes Liebste? Bitte sag es mir, bevor ich gehe.«
»Nein«, sagte Rilla. Doch sie wollte ganz ehrlich sein zu Walter, jetzt, da sie womöglich das letzte Mal miteinander sprachen. Deshalb sagte sie, während sie heftig errötete: »Doch falls - falls Kenneth Ford - mich gern
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