Zum ersten Mal verliebt
haben -«
»Ich verstehe«, sagte Walter. »Und Ken ist auch unter den Soldaten. Armes kleines Mädchen, da hast du es doppelt schwer. Immerhin muss ich keinem Mädchen das Flerz brechen, wenn ich gehe. Gott sei Dank.«
Rilla schaute zum Pfarrhaus oben auf dem Hügel hinauf. Sie sah ein Licht in Una Merediths Fenster. Fast hätte sie etwas gesagt, doch dann schwieg sie lieber. Es war nicht ihr Geheimnis. Und außerdem: Sie wusste es nicht, es war nur eine Vermutung.
Walter schaute nachdenklich und sehnsüchtig um sich. Wie gern hatte er dieses Fleckchen Erde! Wie lustig hatten sie alle hier gespielt vor langer, langer Zeit! Gestalten der Erinnerung schritten die gesprenkelten Wege entlang und lugten fröhlich durch die schaukelnden Äste hindurch: Jem und Jerry als barfüßige, braun gebrannte Schuljungen, wie sie im Bach fischten und auf der alten Feuerstelle Forellen brieten. Nan, Di und Faith als nette kleine Mädchen mit leuchtenden Augen, Una, die Süße und Scheue, Carl, wie er emsig Ameisen und Käfer beobachtete. Die kleine, scharfzüngige, aber gutherzige Mary Vance. Und er selbst, wie er schon älter war, im Gras lag und Gedichte las oder durch Luftschlösser spazierte. Sie waren alle um ihn herum. Er konnte sie fast genauso deutlich sehen wie Rilla. So deutlich, wie er einst den Pfeifer gesehen hatte, wie er in der verblassenden Dämmerung das Tal hinabwanderte und auf seiner Flöte spielte. Und sie sagten zu ihm, diese fröhlichen kleinen Geister aus vergangener Zeit: »Wir waren die Kinder von gestern, Walter. Nun kämpfe du für die Kinder von heute und morgen!«
»Wo bist du, Walter?«, rief Rilla lachend. »Komm zurück, komm zurück!«
Walter kam zurück, indem er tief Luft holte. Er stand auf und ließ seinen Blick noch einmal über das schöne Mondscheintal gleiten, als ob er all die zauberhaften Dinge fest in sein Gedächtnis und sein Herz einprägen wollte: die Zweige der Tannen, die sich wie Federn vom Silber des Himmels abhoben, die würdevolle »Weiße Dame«, der märchenhafte, tanzende Bach, die treuen »Drei Liebenden«, all die vielen lockenden, schelmischen Wege.
»So werde ich es in meinen Träumen sehen«, sagte er, während er sich abwandte.
Sie kehrten zurück nach Ingleside. Mr und Mrs Meredith waren gerade da, ebenso Gertrude Oliver, die von Lowbridge gekommen war, um sich von Walter zu verabschieden. Alle gaben sich heiter und gut gelaunt, aber niemand erwähnte ein Wort darüber, dass der Krieg ja bald zu Ende sei, so wie sie es vor Jems Abreise getan hatten. Sie sprachen überhaupt nicht über den Krieg - und dachten doch an nichts anderes. Zum Schluss versammelten sich alle um das Klavier und sangen das alte Loblied:
Gott der Herr ist unsere Hilfe,
Unsere Hoffnung allezeit,
Unser Schutz vor Sturm und Unglück,
Unser Heim in Ewigkeit.
»Wir alle kehren zu Gott zurück in dieser Zeit, wo uns alles zu Gemüte geht«, sagte Gertrude zu John Meredith. »Es hat in der Vergangenheit oft Tage gegeben, an denen ich nicht an Gott geglaubt habe, zumindest nicht an Gott als Person, sondern nur als Ursprung allen Seins, so wie die Wissenschaftler, jetzt glaube ich an ihn. Ich muss an ihn glauben, denn wo sonst soll man noch Hilfe suchen, wenn nicht bei ihm. Demütig und bedingungslos.«
»Er ist unsere Hilfe - gestern, heute und für immer«, sagte der Pfarrer. »Wenn wir Gott vergessen: Er erinnert sich an uns.« Als Walter am nächsten Morgen am Bahnhof von Gien eintraf, gab es keine Menschenmenge, die sich seinetwegen eingefunden hätte. Es gehörte schon zur Tagesordnung, wenn ein junger Mann in Uniform nach seinem letzten Urlaub den Morgenzug bestieg. Außer seiner eigenen Familie waren nur die Pfarrersleute da und Mary Vance. Mary hatte ihren Miller eine Woche zuvor mit Siegesmiene fortgeschickt und nun meinte sie ihre Erfahrung im Abschiednehmen weitergeben zu müssen.
»Die Hauptsache ist: lächeln und so tun, als ob nichts wäre«, ließ sie die Inglesider wissen. »Dieses Geheule mögen die Jungen überhaupt nicht. Miller hat gesagt, ich bräuchte gar nicht erst in Bahnhofsnähe zu kommen, wenn ich vorhätte loszukreischen. Also habe ich vorher schon auf die Tränendrüse gedrückt, und zum Schluss habe ich zu ihm gesagt: >Viel Glück, Miller, und wenn du zurückkommst, dann werde ich immer noch die Alte sein, und falls du nicht kommst, dann werde ich immer stolz auf dich sein, dass du gegangen bist. Und pass auf, dass du dich nicht in eine Französin verliebst/
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