Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit
Leid und Krankheit. Sie redeten mehr als die Männer, die er behandelte. Aber letzten Endes verschwiegen sie doch mehr.
Der Anruf kam am Abend, in seine Praxis, als er sich eben von dem letzten Patienten verabschiedete.
Gegen halb neun stand er vor dem großen, gelb getünchten Appartementhaus. Er läutete unten bei der Hausmeisterin.
Die Frau kannte ihn schon. »Hier ist der Schlüssel, Herr Doktor … Soll ich mit hinaufgehen?«
»Danke. Ich brauche Sie nicht.«
Die Hausmeisterin sah ihn an. »Furchtbar, diese Anfälle … Sie kann keinen Schritt mehr gehen. Es ist ein Glück, daß sie immer noch das Telefon erreicht.«
Normann fuhr mit dem Lift nach oben, ging den Flur entlang und sperrte mit dem Schlüssel der Hausmeisterin eine perlgraue Tür auf. Der Name auf dem Chromschild: Helga Anderssen.
In seinem Gedächtnis gab es ein paar Angaben mehr: dreiunddreißig Jahre alt, Direktionssekretärin in einer Autofabrik, Dolmetscherdiplom, intelligent, tüchtig, alleinstehend.
»Sind Sie es, Herr Doktor?«
»Ja.«
Helga Anderssen lag auf der Couch im Wohnraum. Sie war ein merkwürdiges Mädchen mit Brille, streng frisierten Haaren, einem blassen, schmalen Gesicht. Sicher kein Typ, nach dem sich die Männer auf der Straße umdrehten. Sie zog sich stets zurückhaltend an, nicht zu kurze Röcke, hochgeschlossene Blusen.
Wenn man sie hübsch finden wollte, mußte man schon sehr genau hinsehen. Und das hatte er zwangsläufig als ihr Arzt getan. Und hatte schon bei der ersten Untersuchung bemerkt: Sie ist schöner, als man denkt.
»Sie helfen mir wieder, nicht wahr?« sagte Helga Anderssen.
»Wann ist es passiert?« fragte er.
»Vorhin … Ich habe mich ein bißchen hingelegt und muß eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, hatte ich keine Beine mehr – ein Gefühl, als seien sie mir abgestorben. Ich versuchte aufzustehen, es ging nicht mehr.«
Vor einem halben Jahr war diese Lähmung zum erstenmal bei ihr aufgetreten. Man hatte sie ins Krankenhaus geschafft, wochenlang untersucht, nicht den geringsten organischen Befund feststellen können.
Der Kollege, der ihn damals hinzuzog, meinte achselzuckend: »Wir sind am Ende mit unserem Latein. Versuchen Sie Ihr Glück bei ihr.«
Daran mußte Dr. Normann jetzt denken. Und daran, daß sie schnell wieder gehen konnte, nach einer einzigen Behandlung. Ziemlich viel Aufsehen hatte diese Geschichte erregt … beinahe wie eine Wunderheilung.
Helga Anderssen war mit Blumen in seine Praxis gekommen. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Doktor.«
Er hatte sie damals gewarnt. »Es kann wiederkommen, Fräulein Anderssen.«
Er zog die Vorhänge zu, knipste eine Stehlampe in der Ecke an.
Hypnose war für viele Leute noch immer ein Zauberkunststück, etwas Magisches, so etwas wie Tischerücken oder Geisterbeschwören.
Für ihn gehörte es zur täglichen Arbeit, eine Heilmethode mit verblüffenden Effekten.
Er stellte sich hinter das Kopfende der Couch.
Es war einen Augenblick ganz still im Zimmer. Sie lag ausgestreckt vor ihm. Ihr Atem ging schneller.
»Helga, sehen Sie mich an.« Er sprach langsam, seine Stimme hatte einen anderen Klang bekommen.
Braune, große Augen richteten sich auf ihn.
»Halten Sie die Augen offen … Sie müssen mich ganz fest ansehen.«
Monoton wiederholte er diese Befehle, bis er sah, wie sie müde wurde, wie ihr Gesicht einen fernen, entrückten Ausdruck annahm.
Er strich ihr sanft über das blasse Gesicht. »Schließen Sie jetzt die Augen. Sie schlafen, nicht wahr?«
Sie nickte mühsam, fast unmerklich.
»Ihre Arme und Beine sind jetzt schwer geworden, sehr schwer. Sie können sie nicht mehr bewegen, nicht wahr?«
»Nein«, flüsterte Helga Anderssen.
Er beließ sie so eine Weile, reglos, in hypnotischen Schlaf versunken. Oft stand er so, allein mit Frauen, die keinen Willen mehr hatten. Ein seltsames Gefühl, immer wieder.
»Helga«, begann er dann wieder, »nun strömt das Blut zurück. Es wird Ihnen warm und angenehm … Fühlen Sie es?«
»Ja«, hauchte sie.
»Ihr Körper wird leicht, schwerelos …« Und ganz ruhig setzte er hinzu: »Stehen Sie auf, gehen Sie da hinüber zu dem Tisch …«
Ein paar Sekunden lang geschah nichts. »Helga«, mahnte er, »Sie sollen aufstehen.«
Da gehorchte sie. Langsam richtete sie sich auf, stand fest auf den Beinen, ging quer durch den Raum.
»Kommen Sie jetzt zu mir zurück.«
Wie ein braves kleines Mädchen folgte sie, blieb dicht vor ihm stehen. Jetzt kam das Wichtigste: der
Weitere Kostenlose Bücher