Zum Wilden Einhorn
Illyra starrte über die Basarmauer zum Palast, der sich am Nordende der Stadt erhob. Haakon, der auf seine Neuigkeiten eine weniger mysteriöse Reaktion erwartet hatte, brummte ein gekränktes Lebewohl und schob seinen Karren zu einem Stand, an dem er sich größeres Interesse erhoffte.
Die ersten Käufer aus der Stadt waren zu hören, wie sie mit anderen Händlern feilschten. Illyra eilte hastig unter den Schutz ihres Daches zurück, um ihre tägliche Verwandlung in eine alte S'danzo zu vollenden. Sie nahm Walegrins drei Erzkarten aus ihrem Päckchen und gab sie in den Beutel mit dem Schmuck ihrer Mutter, dann zündete sie das Räucherwerk des sanften Vergessens an und begrüßte den ersten Kunden des Tages.
Alten Stulwig
Der Traum der Zauberin
A. E. van Vogt
In schwärzester Finsternis riß der Schrei Stulwig aus dem Schlaf. Einen Augenblick blieb er wie gelähmt liegen. Wie jeder Bewohner Freistatts, dieser alten, verruchten Stadt mit ihrem lichtscheuen Gesindel, war sein erster Gedanke, daß das Opfer eines Überfalls diesen entsetzlichen Schrei ausgestoßen hatte. Er hatte seiner Treibhauswohnung im ersten Stock so nahe geklungen, wie ...
Er stockte. In aufflackernder Selbstverdammung wurde es ihm klar.
Schon wieder!
Sein ganz besonderer Alptraum! Aus dem verborgensten Teil seines Gedächtnisses war er gekommen, in den er diese schlimme Erinnerung verbannt hatte. Nie war sie ganz klar, ja vielleicht nicht einmal wirklichkeitsgetreu. Aber mehr wußte er nicht über jene Nacht vor drei Jahren, als er seines Vaters Todesschrei im Schlaf gehört hatte.
Er hatte sich aufgesetzt, stützte sich auf die Bettkante, und dachte schuldbewußt: Wäre ich nur dieses erste Mal in seine Schlafkammer gelaufen, um nachzusehen!
Statt dessen hatte er die Leiche mit dem entsetzlich verzerrten Gesicht und der durchschnittenen Kehle erst am Morgen entdeckt. Es sah jedoch nicht so aus, als hätte ein Kampf stattgefunden. Das war merkwürdig. Um so mehr, als sein Vater mit seinen fünfzig Jahren bei seiner körperlichen Verfassung geradezu als Aushängeschild für die Heilkünste hätte dienen können, denen sie beide sich verschrieben hatten. Wie er so im hellen Tageslicht dalag, hatte sein stämmiger Körper so kräftig und vital wie der seines dreißigjährigen Sohnes ausgesehen.
Die allzu lebendigen Bilder dieses Unglücks begannen zu verblassen. Stulwig legte sich wieder auf das Schafsfell und deckte sich zu. In der anhaltenden Dunkelheit lauschte er dem Wind, der um eine Ecke seines Treibhauses pfiff. Es war ein heftiger Wind. Er spürte das schwache Zittern der Schlafkammer. Er war noch nicht wieder eingeschlafen, als er nach einer Weile aus der Ferne einen gedämpften Schrei vernahm - von einem, der draußen im Labyrinth ermordet wurde?
Eigenartigerweise beruhigte ihn dieser Gedanke schließlich.
Er brachte seine innere Welt mit Hilfe der äußeren Wirklichkeit ins Gleichgewicht. Immerhin war dies Freistatt, wo zu jeder Stunde, in jeder Nacht, ein Menschenleben gewaltsam endete.
Es war noch viel, viel zu früh, auch nur daran zu denken, etwas Sinnvolles zu tun. Nicht, wenn der Wind durch die dunklen, schmutzigen Straßen blies. Auch nichts im Zusammenhang mit dem schrecklichen Traum, der ihn so unsanft in die Wirklichkeit zurückgeführt hatte. Es gab eigentlich nichts, was er tun konnte, außer sich noch einmal umzudrehen und ...
Erneut wurde er aus dem Schlaf gerissen. Doch diesmal war es bereits hell. Jemand klopfte an die Außentür, zwei Räume entfernt.
»Einen Moment!« rief er.
Natürlich brauchte er länger als einen Moment. Er mußte erst aus dem Schlafgewand und in sein Heilergewand und die Schuhe schlüpfen. Dann eilte er durch den hellen Sonnenschein des Treibhauses und die Düsternis des Korridors zu der schweren Tür mit der trichterförmigen kleinen Öffnung in Mundhöhe.
Auf sie preßte Stulwig seine Lippen und fragte: »Wer ist da?«
Die Stimme, die ihm antwortete, gehörte einer Frau. »Ich bin's, Illyra. Allein.«
Die Seherin! Stulwigs Herz schlug schneller, von Hoffnung erfüllt. Eine neue Chance, ihre Gunst zu gewinnen! Und allein - das war ungewöhnlich so früh am Morgen.
Hastig zog er den Riegel zurück und schwang die Tür an seiner hageren Gestalt vorbei auf. Und dort stand sie im Dämmerlicht am Kopfende der Treppe. Sie war so gekleidet, wie er sie in Erinnerung hatte, in zahllose Röcke, Bluse und S'danzo-Schultertücher. Leider war das schöne Gesicht bereits auf S'danzo-Art bis
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