Zum Wilden Einhorn
zu mir und sprach von Euch. Aus seinem heftigen Benehmen zu schließen, ist er ergrimmt über Euch.« Sie endete: »In seiner menschlichen Gestalt hatte er peschschwarzes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte.«
Schweigen herrschte. Aus einem inneren Kern der Furcht breitete sich in Stulwig eine seltsame Leere aus, eine Taubheit, die überall zu sein schien.
»Ils!« krächzte er schließlich.
Das Unmögliche!
Man erzählte sich, daß der Hauptgott des alten Ilsig hin und wieder höchstpersönlich in menschliche Geschicke eingriff. Daß er dazu jetzt offenbar Alten Stulwig auserkoren hatte, bedeutete zweifellos nichts Gutes.
Illyra schien zu wissen, was in Stulwig vorging. »Es hat etwas mit Eurem Vater zu tun«, sagte sie leise. Sie streckte die Hand aus und griff sanft nach dem dritten Beutelchen. Widerspruchslos überließ Stulwig es ihr. Wie betäubt blickte er ihr nach, als sie sich umdrehte und die Treppe hinuntereilte. Kurz danach öffnete und schloß sich die Haustür, und einen Augenblick lang drang Licht von draußen ins Treppenhaus, und flüchtig sah er die Gasse, und daß Illyra sich offenbar nach links wenden wollte.
Ils!
Den ganzen Vormittag, während er die Kranken behandelte, bemühte Stulwig sich, den Gedanken an den Gott zu verdrängen. Einige der Heilbedürftigen redeten wie ein Wasserfall über ihre verschiedenen Leiden, und ausnahmsweise unterbrach er sie heute nicht dabei. Die dahinplätschernden Stimmen lenkten ihn zumindest eine Weile von seiner Ahnung eines bevorstehenden Unglücks ab. Er war es gewohnt, alles aufzunehmen, zu vergleichen und dann zu einem Befund zu kommen. Und irgendwie gelang es ihm auch heute, trotz der inneren Betäubung.
Anhaltende Leib schmerzen ... »Was habt Ihr gegessen?« Blüten der Agris brachten ein Silberstück ein.
Stechen in der Brust. »Wie lange? Wo genau?« Während er beobachtete, mußte der Leidende die Wurzel der schwarzen Melles kauen und schlucken, und dafür eine kleine rankanische Goldmünze bezahlen.
Länger anhaltendes Zahnfleischbluten. Er händigte dem Patienten Blütenblätter und Staubfäden einer Rose und gestampfte Weizenkornhülsen aus, mit der Anweisung: »Nehmt morgens und abends einen Löffelvoll davon ein.«
Dutzend ähnliche Fälle hatte er. Alle Hilfesuchenden waren über ihre Leiden beunruhigt und verängstigt. Und einer nach dem anderen nahm seine Zeit in Anspruch, bis es fast Mittag und der letzte behandelt war. Und als er allein war, überwältigte ihn wieder der schreckliche Gedanke an den mächtigen Ils, dessen Zorn er sich irgendwie zugezogen haben mußte.
Was kann er bloß von mir wollen?
Immer wieder stellte er sich diese Frage. Nicht, was Alten Stulwig tun konnte, in dieser schrecklichen Lage, sondern was diese Gottheit mit ihm vorhatte, oder was sie von ihm wollte.
Es war bereits Mittag, als die zweite Möglichkeit, außer Herumzusitzen und auf weitere Hinweise zu warten, seine Gedanken durchdrang.
Jetzt hängt es von mir ab! Ich sollte gewisse Leute um Rat fragen! Und mit plötzlicher Hoffnung: oder um Auskunft!
Nun hatte er wenigstens etwas, das er tun konnte!
Da bedurfte noch eine Nachzüglerin seiner Heilkünste. Doch als die ziemlich dicke Frau gegangen war, mit ihrem kleinen Lederbeutel in der fettigen Hand, schlüpfte Stulwig hastig in seine Straßenstiefel und griff nach seinem Stock. Augenblicke später rannte er bereits, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.
Unten angekommen hielt er an und spähte vorsichtig aus der Tür. Er schaute nach links und rechts. Links bog eine Gasse ab. Während sein Blick hin und her wanderte, schloß er, daß Illyra am Morgen in diese Gasse eingebogen war.
Obwohl er nicht verstand, warum sie das getan hatte, wenn sie doch nach rechts hätte gehen müssen, um nach Hause zu gelangen. Die Gasse zu nehmen, bedeutete einen langen Umweg für sie ...
Um dorthin zu kommen, wohin er jetzt wollte, mußte er an ihrer Bude vorbei. Und so, mit dem Stock in der Hand, marschierte er nach rechts. Ein paar Dutzend Schritte brachten ihn zu einer verkehrsreichen Durchgangsstraße. Wieder hielt er an und ließ seinen Blick wandern. Nicht, daß er sich zu dieser Stunde hier bedroht fühlte. Was er hier sah, war das übliche Gedränge. Da waren die schmächtigen Westcaronner in ihrer Kleidung aus Satin, die gleichmütig zwischen den größeren Menschen in den dunklen Kitteln aus dem fernen Süden des Reichs dahinspazierten. Ebenso sorglos benahmen sich die
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