Zum Wilden Einhorn
Töpferscherbe, noch Haakons Orangen aus dem Kopf. Wo ist da die Verbindung?«
»Wenn dieser Haakon Enlibar-Orangen verkauft, ist die Erklärung einfach. Ich habe die Scherbe aus der Ruine der Rüstkammer in Enlibar. Wir durchsuchten sie drei Tage und fanden nur diese einzige. Sollte jemand anderer ein größeres Stück gefunden haben, weiß er nicht, was es ist, denn wenn er es wüßte, würde sich bereits eine Armee sammeln, vor der das Reich erbebte.«
Illyras Augen weiteten sich. »Und alles wegen eines Stücks billigen Tons?«
»Es geht nicht um die Tontafel, teure Schwester. Der Rüstmeister schrieb die Formel für den Enlibar-Stahl auf eine Tontafel und ließ die Glasur von einem Magier verzaubern, damit die Formel nicht entziffert werden kann. Ich spüre den Zauber, aber ich kann ihn nicht brechen.«
»Aber deine Scherbe mag nur ein winziges Stück der Tafel sein«, gab Illyra zu bedenken. Sie strich mit den Fingern über die rauhen Kanten. »Vielleicht nicht einmal ein wichtiges.«
»Für deine S'danzo-Gabe ist die Zeit ohne Bedeutung, nicht wahr?«
»Nun, ja - Vergangenheit und Zukunft stehen uns offen.«
»Dann müßte es dir doch möglich sein, in jene Zeit zurückzublicken, bevor die Glasur angebracht wurde, und die Tafel als Ganzes zu sehen.«
Verlegen scharrte sie mit dem Fuß. »Ja, vielleicht könnte ich sie sehen, aber ...« Sie zuckte die Schultern, und der Wein ließ sie grinsen, »... ich kann nicht lesen.«
Walegrin runzelte die Stirn und dachte über die zweifellos durch den Fluch verursachte Ironie des Schicksals nach. Bestimmt war Illyra imstande, die ungebrochene Tafel zu sehen, aber sie war nicht in der Lage, ihm zu sagen, was daraufstand.
»Deine Karten sind beschriftet.« Er deutete auf die Runenzeichen, in der Hoffnung, sie könne Runen lesen, wenn schon keine normale Schrift.
Wieder zuckte sie die Schultern. »Ich richte mich nach den Bildern und meiner Gabe. Meine Karten sind nicht von S'danzo gemacht.« Sie schien sich der geringen Herkunft ihrer Karten zu schämen und drehte den Stoß mit den Bildern nach unten, damit die kränkende Schrift nicht mehr zu sehen war. »S'danzo sind Künstler. Wir malen das Schicksal in Bildern.« Sie spritzte sich einen Mundvoll Wein zwischen die Lippen.
»Bilder?« fragte Walegrin nachdenklich. »Könntest du die Tafel deutlich genug sehen, um ein genaues Bild von ihr hier auf den Tisch zeichnen zu können?«
»Ich könnte es versuchen. Getan habe ich so etwas noch nie.«
»Dann probier es jetzt.« Walegrin nahm ihr den Weinbeutel aus der Hand.
Illyra legte die Scherbe auf das Kartenpäckchen und hob beides an die Stirn. Sie atmete aus, bis die Welt dämmrig für sie wurde und die Wirkung des Weines nachließ. Jetzt war sie nur noch eine S'danzo, die jene unerklärliche Gabe nutzte, welche die Urgötter ihrer Art geschenkt hatten. Wieder atmete sie aus und vergaß, daß sie sich in dem Raum befand, in dem ihre Mutter den Tod gefunden hatte. Mit geschlossenen Augen legte sie Kartenpäckchen und Scherbe zurück auf den Tisch und zog drei Karten, mit dem Bild nach oben.
Erzsieben - wie schon einmal: roter Ton, der Töpfer mit Scheibe und Brennofen.
Quecksilber: ein geschmolzener Wasserfall; der alchimistische Vorgänger aller Erze; das As der Erzfarbe.
Erzzwei: Stahl; Kriegskarte; Todeskarte mit kämpfenden Maskierten.
Sie spreizte die Finger, um jede Karte zu berühren und machte sich auf die Suche nach der enlibrischen Rüstkammer.
Der Waffenmeister war alt, seine Hand zitterte, als er den Pinsel über die ungebrannte Tafel führte. Ein ebenso alter Zauberer stand besorgt neben ihm und blickte immer wieder ängstlich über die Schulter und somit aus der Reichweite von Illyras S'danzo-Gabe. Die Kleidung der beiden war von einer Art, wie Illyra sie noch nie gesehen hatte. Das Bild schwankte, als sie an die Gegenwart dachte, so widmete Illyra sich schnell wieder der Rüstkammer. Sie ahmte die Bewegungen des Waffenmeisters nach, während er die Tafel Reihe um Reihe mit eng beisammenstehenden Zeichen bedeckte. Der Zauberer griff nach der Tafel und streute feinen Sand darauf. Dazu singsangte er in einer Sprache, die für Illyra so unverständlich war wie die Schriftzeichen. Sie spürte jetzt den Beginn des Zaubers und zog sich durch die Zeit zurück in die Kaserne von Freistatt.
Walegrin hatte den Umhang, den sie als Tuch benutzt hatte, vom Tisch gezogen und ihr einen Kohlestift in die Hand gedrückt, ohne daß sie es bemerkt hatte.
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