Zurück nach Hollyhill: Roman (German Edition)
nutzlos, und womöglich deshalb sickerte die Bedeutung dessen, was sie sah, nicht gleich in ihr Bewusstsein.
Das Licht des aufgehenden Morgens verwandelte den Bach in ein glitzerndes Band, das sich etwa fünfzig Meter weiter in ein ausladendes Flussbett ergoss. Die Wiese lag feucht und satt daneben, die Pferde fehlten, die Schafe auch.
Und natürlich die Brücke.
So wie jedes andere, jedes einzelne Haus von Hollyhill.
Emily blinzelte Matt an, der neben ihr stand, den Blick starr nach vorne gerichtet. Vielleicht war das gar nicht die Stelle, womöglich hatten sie sich verirrt, waren in eine falsche Richtung gelaufen und nun wer weiß wo herausgekommen? Doch als Matt sich ihr zuwandte, stellten sich die Härchen in Emilys Nacken auf.
»Wie lange hältst du noch durch?«, fragte er. Sein Tonfall war sachlich, sein Blick müde und ernst. »Wir müssen dir irgendwo etwas zum Anziehen besorgen und dich aufwärmen.«
»Haben wir uns verlaufen?« Die lodernde Panik in Emilys Innerem taute ihren Verstand nur mühsam auf.
Matt sah mit gerunzelter Stirn auf sie herab. Es war unmöglich einzuschätzen, was er dachte. Vielleicht bemitleidete er sie, vielleicht hielt er sie für verrückt.
»Womöglich ist es besser, wenn du hier wartest«, schlug er schließlich vor. Mit einem Nicken in Richtung nicht vorhandenes Pfarrhaus fuhr er fort: »Da hinten müsste irgendwo ein Cottage sein. Ein paar Meilen von hier. Denke ich. Hoffe ich doch.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Wenn ich mich beeile, bin ich in zwei, drei Stunden …«
»Kommt nicht infrage«, fiel Emily ihm ins Wort. Ihre schneidende Stimme ließ den Vogel, der in der Nähe gesungen hatte, verstummen. Sie konnte noch so benommen, vermutlich sogar ohnmächtig sein, Matt schaffte es scheinbar spielend, sie wieder wachzurütteln.
»Glaubst du nicht, ich habe gerade andere Probleme als … als …«. Liebe Güte, worum ging es noch mal? Sie hatte es vergessen. Fest stand, er wollte sie ablenken – mal wieder – von dem, dem sie sich allmählich stellen musste.
Herausfordernd hielt Emily Matts Blick stand und wiederholte ihre Frage, jede Silbe betonend: »Haben – wir – uns – verlaufen?«
Matt sagte nichts.
Emily holte zittrig Luft. »Wenn wir uns nicht verlaufen haben, wo …?« Sie war absolut nicht bereit, eine solch unsinnige Idee zu formulieren, aber sie tat es trotzdem. »Wo ist – das Dorf? Wo ist es hin?« Sie würde nicht glauben , was sie jetzt dachte. »Ist es … verschwunden?« Nein. Nein. Nein. »Es kann sich nicht unsichtbar machen, oder? So wie bei Harry Potter ?« Sie kicherte hysterisch. »Nur dass es mit einem unsichtbar machenden Umhang natürlich nicht getan wäre, man bräuchte schon eine riesige Glasglocke, um ein ganzes Dorf verschwinden zu lassen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf.
»Emily …«
»Hm? Das klingt völlig verrückt, oder? Ich weiß, das klingt verrückt, aber du willst mir ja nicht sagen, was hier los ist, du willst mir nicht sagen, wo sie hin sind und …«
»Okay! OKAY !« Matt hob beide Hände, als könne er Emilys Redefluss damit stoppen. »Ich werde all deine Fragen beantworten, okay? Aber erst müssen wir uns einen Unterschlupf suchen.« Er sah fast so verzweifelt aus, wie Emily sich fühlte.
Sie überlegte still. Unterschlupf suchen.
Dann schlang sie beide Arme um ihren Oberkörper, wie um sich selbst zu trösten, und ließ sich langsam in die Hocke sinken.
Das Dorf war weg.
Silly, Joe. Ihre Großmutter.
»Emily.« Matts Stimme klang weiter entfernt als der Himalaya.
Sie löste die Arme aus ihrer Umklammerung und umschlang stattdessen ihre Knie, bevor sie ihren Kopf daraufsinken ließ und sich auf den Boden setzte.
Matt seufzte, dann hockte er sich neben sie. Aus den Augenwinkeln beobachtete Emily, wie er einen Stein aufhob und zwischen Daumen und Zeigefinger drehte. Sie presste die Augen fest zusammen und atmete tief ein.
»Wo sind sie hin?«, fragte sie leise.
Er antwortete nicht gleich. Dann gab er vollkommen ruhig zurück: »Es ist ihnen nichts passiert.« Und nach einem kurzen Zögern: »Du musst mir jetzt einfach vertrauen.«
Emily biss sich auf die Lippen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wandte Matt ihr Gesicht zu und öffnete die Augen.
Von allen Menschen, die sie in England kennengelernt hatte, war er derjenige gewesen, der sie am wenigsten hier haben wollte.
Und nun war er der Einzige, der ihr geblieben war.
10
D ass sie das Cottage fanden, war – Matts
Weitere Kostenlose Bücher