Zurückgeküsst (German Edition)
erläuterte sie träge.
„Ja, und nackte alte Männer auch nicht, aber es ist einer da, also vergessen wir das, okay?“, rief ich über die Schulter zurück. Vor mir war eine Rolltreppe und rechts ein Gang. Ich zögerte kurz, rannte dann die Rolltreppe hinauf … und da stand er, direkt vor der Geschenkeverpackungstheke. Sein dünnes weißes Haar war zerzaust, die Schuhe waren schmutzig. Die junge Frau hinter der Theke konnte anscheinend nicht sehen, dass er unterhalb der Gürtellinie nackt war, denn sie fragte freundlich: „Und was kann ich für Sie tun, Sir?“
„Mr Lowery?“, sagte ich. Er reagierte nicht. Die Sicherheitsfraukam keuchend angelaufen. „Können Sie ihm etwas zum Anziehen holen?“, flüsterte ich.
„Was denn? Ein Mädchennachthemd?“, brummelte sie. „Meine Schicht ist seit zwei Minuten beendet.“
„Nun helfen Sie schon“, raunte ich. „Wie steht’s mit einer selbstlosen guten Tat?“ Ich räusperte mich. „Mr Lowery? Ted?“
Jetzt drehte er sich um, und mir brach es fast das Herz.
„Hallo“, sagte ich. „Wie geht es Ihnen? Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen.“ Ich lächelte gegen den Kloß in meinem Hals an. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Mann, den ich einst kennengelernt hatte, diesem eingebildeten, schmierigen Typen, der seinen erstgeborenen Sohn so schmählich vernachlässigt hatte. Nein, dieser Mann war verwirrt, verloren und vorzeitig gealtert.
„Kenne ich Sie?“, fragte er zögernd.
„Ich bin die Frau Ihres Sohnes.“
„Jason? Jason ist verheiratet?“ Er runzelte die Stirn.
„Nein. Noch nicht. Ich bin Nicks Frau. Harper. Erinnern Sie sich?“
„Nick?“
„Ja, Ihr Sohn Nick. Ihr Ältester.“ Ich lächelte wieder und ging langsam, ganz langsam auf ihn zu – immerhin war dieser Mann den ganzen Tag der Polizei entkommen, und ich wollte nicht, dass er plötzlich durch den Laden stürmte und dabei kleine Mädchen erschreckte.
„Oh ja, ich habe einen Sohn. Mehrere.“
„Ja, und tolle Söhne noch dazu! Gut aussehend wie ihr Vater, stimmt’s?“
Darauf lächelte er, und ich sah kurz den stolzen Mann von früher aufblitzen. „Das ist ein schöner Hund“, sagte er und streckte die Hand aus, um Coco zu streicheln. Und sie – Gott segne sie für ihr gutes Herz – leckte ihm die Hand und wedelte mit dem Schwanz. Mr Lowery lächelte wieder. „Darf ich ihn halten?“, fragte er mich.
„Sicher. Aber es ist eine Sie, ein Mädchen.“
„Ich habe nur Söhne“, sagte er.
Die Sicherheitsangestellte kam mit einer Decke zurück. „Etwas Besseres konnte ich nicht finden“, meinte sie, schon viel weniger unfreundlich.
„Ich werde jetzt Nick anrufen, ja? Er war verreist und freut sich schon sehr darauf, Sie wiederzusehen, Mr Lowery.“
Der Mann, der einst mein Schwiegervater gewesen war, sah mich an und grinste so schelmisch wie früher. „Nennen Sie mich Ted.“
20. KAPITEL
D rei Stunden später saß ich allein in dem sehr gemütlichen Aufenthaltsraum des Roosevelt Center, die schlafende Coco auf dem Schoß. Sie war wohl erschöpft vor Glück: Nachdem sie einen Cheeseburger verspeist hatte, der so groß gewesen war wie sie selbst, hatte sie sich in einen Therapiehund verwandelt und die Heimbewohner mit ihren Tricks – Pfötchen heben, senkrecht in die Luft springen – entzückt. Nick war damit beschäftigt gewesen, seinen Vater wieder gut unterzubringen, und dann mit der Direktorin verschwunden, um Formulare auszufüllen, Entschuldigungen entgegenzunehmen und das Alarmsystem zu inspizieren.
Ich fühlte mich zutiefst erschöpft. Es war kaum zu glauben, dass dieser Tag gemeinsam mit Nick im Bett begonnen hatte, irgendwo mitten im Landesinneren. Tags zuvor (es war tatsächlich erst einen Tag her!) hatte ich meine Mutter gesehen. Vor weniger als einer Woche hatte meine Schwester geheiratet. Mein Vater ließ sich scheiden, und Gott allein wusste, was dann aus BeverLee würde.
Ich dachte an mein kleines Haus in Menemsha und wie ich oft mit Kim bei einem Glas Wein auf der Terrasse gesessen hatte, das Schlagen der Wellen gegen die Fischerboote und das Rauschen des Windes im Ohr. Das alles schien eine Ewigkeit her zu sein.
Anscheinend waren das zu viele Gedanken auf einmal, die mich beschäftigten, denn ich schlief darüber ein. Das Nächste, was ich mitbekam, war Nick, der vor mir auf dem Boden kniete. „He“, sagte er lächelnd.
„Hallo“, erwiderte ich und fuhr hoch. „Wie geht es deinem Vater?“
„Der schläft. Es geht ihm gut.
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