Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Klassenunterschiede: Die Ungleichheit werde als Vertreibung empfunden, die weiße Arbeiterklasse Amerikas werde behandelt, als wäre sie unsichtbar, als wäre sie nur Teil des Hintergrunds und spielte keine Rolle im Aufstiegsethos der Nachkriegszeit.
Die Herausforderung sah Thomas in dem Bemühen, Menschen, die keinen Platz im amerikanischen Traum hatten, zu bewegen, sich nach außen zu wenden, über ihre eigenen Grenzen zu blicken und miteinander zu kooperieren. Informelle Geselligkeit ist ein radikales Mittel zu diesem Zweck, zumindest sah Thomas dies so, denn je mehr die Menschen lernen, ohne Richtlinien oder Regeln auszukommen, desto eher werden sie Wertschätzung füreinander entwickeln.
Gelegentlich heißt es, Thomas sei ein charismatischer Redner gewesen, aber viele Zuhörer hatten nicht diesen Eindruck. Seine Stimme war rau, seine Gestik linkisch, und die Ansichten, die er in der Öffentlichkeit äußerte, waren kaum mehr als wohlmeinende Klischees. Er forderte ökonomische Gleichheit, ein gutes staatliches Gesundheitssystem, Rassengerechtigkeit und – nach dem Zweiten Weltkrieg – die Unterstützung der Vereinten Nationen. Wer ihn häufiger hörte, konnte diese Forderungen auswendig dahersagen. ******* Sein Genie lag eher in seinem Verhalten. Es war zwanglos, und diese Ungezwungenheit war echt. Auch Roosevelt konnte sich in der Öffentlichkeit zwanglos geben, aber stets von oben herab – ein amerikanischer Aristokrat, der die Massen beruhigte und lenkte. Thomas sprach wie einer von vielen. Es machte ihm nichts aus, langweilige Dinge zu sagen, und gerade mit dieser Gewöhnlichkeit gewann er das Vertrauen der Menschen.
Man könnte meinen, dieser Mangel an theatralischer Präsenz und dieses Fehlen von Charisma auf der Bühne hätten ihn als Politiker disqualifiziert. Ich denke eher, seine Geschicklichkeit lag im Informellen. So stellte er seinen Stuhl stets mitten in eine Gruppe hinein, vorzugsweise einen Kreis, statt die Versammlung von einer erhöhten Position an der Stirnseite des Raums aus zu leiten. Am Ende einer Rede bat er nie um Handzeichen für Wortmeldungen, sondern wählte Menschen aus, die zu scheu waren, sich selbst zu melden, und das mit einer intuitiven Treffsicherheit, die er selbst nicht zu erklären vermochte. Nach einer Versammlung unterhielt er sich in der Regel mit Besuchern, fasste sie am Unterarm und hielt den Arm während des gesamten Gesprächs fest.
Auf kleineren Sitzungen achtete er nicht auf die Tagesordnung, auch wenn eine verteilt worden war. Ein Thema, das Thomas behandelt wissen wollte, verknüpfte er gerne mit dem Namen eines Anwesenden, oft zu dessen Erstaunen, weil er sich nicht sonderlich damit befasst hatte. Nur selten kam Thomas über Punkt 1 oder 2 der Tagesordnung hinaus. Er ließ es zu, dass die Dinge sich entwickelten und aus sich heraus veränderten. Seine démarche bestand oft aus Zeitungsausschnitten oder Auszügen aus Berichten (von Gegnern), die Zorn auslösen oder zur Diskussion anregen sollten.
All diese Verfahren, die ein informelles Finden und Lösen von Problemen ermöglichen sollten, trieben Kollegen wie den Gewerkschaftsführer Walter Reuther in den Wahnsinn, wünschten sie sich doch, dass die Dinge rasch und effizient erledigt wurden. So dauerten Sitzungen oft bis tief in die Nacht – zweifellos kontraproduktiv, wenn es darum ging, eine Entscheidung zu treffen, aber äußerst produktiv, wenn unterschiedliche Leute sich daran gewöhnen sollten, zusammen zu sein. Darin war Thomas äußerst geschickt. Da er sich bemühte, Menschen mit sehr verschiedenen und oft auch gegensätzlichen Interessen zusammenzuführen, stellte er gleichsam das Oscar Wilde zugeschriebene Bonmot auf den Kopf: »Das Problem mit dem Sozialismus ist, dass er so viele Abende kostet.« Zur Ruhe zu kommen, andere einzubeziehen, den Druck zeitweilig herauszunehmen, mit anderen um ihrer selbst willen zusammen zu sein – all das trug dazu bei, das Engagement für die gemeinsame Sache durch informelle Mittel zu stärken.
Thomas bediente sich einer Ironie, die an La Rochefoucauld erinnerte, um andere zur Beteiligung zu ermuntern. Zu seinem 80. Geburtstag überreichten ihm Bewunderer einen Scheck über 17 500 Dollar, worauf er entgegnete: »Das wird nicht weit reichen … Alle Organisationen, mit denen ich zu tun habe, gehen bankrott.« Auf Sitzungen bemühte er sich, jeden Anschein zu vermeiden, er wüsste besser Bescheid als die übrigen Anwesenden, und kehrte niemals den
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