Zwei Schritte hinter mir
knappen Jahr aufs Land gezogen war. Ihre Eltern behaupteten, dass sie sich noch nicht eingelebt hatte. Ihre Mutter befürchtete, dass sie zurück in die Stadt trampen wollte. Ihr Vater war anderer Meinung. Er sagte, sie hätte angefangen, Spaziergänge zu machen, im Wald hinter dem Viertel, in dem sie wohnten. Dieser Wald war dichter, als es vom Wohnviertel aus aussah, und er erstreckte sich weit ins Land. Er glaubte, dass sie dort drinnen war und sich entweder aus Wut auf ihre
Eltern versteckte oder sich verirrt hatte. Die Polizei begann eine groß angelegte Suche. Dutzende von Freiwilligen halfen mit und durchkämmten den Wald, die umliegenden Felder und den Landstrich dahinter. Erst nach sechs Tagen gaben sie die Suche auf. Sie sagten, sie hätten alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
Zwei Wochen, nachdem man die Suche aufgegeben hatte, fand ein Mann das Mädchen bei einem Spaziergang mit seinem Hund – nicht lebend , wie meine Mutter sagte. Jemand hatte sie ermordet und unter den Büschen hinter einem verlassenen Zuckerschuppen vergraben. Wer immer sie vergraben hatte, hatte kein sehr tiefes Loch gegraben, deshalb war ein Tier an sie herangekommen und so hatten der Mann und sein Hund sie gefunden. Der Hund begann zu bellen und als der Mann nachsehen ging, sah er eine Hand auf dem Boden liegen. Das war alles, nur eine Hand. Der Mann rief die Polizei, und die kam mit ihrem eigenen Hund, der sie zum Rest des Mädchens führte. Es lief tagelang in den Nachrichten. Jeder sprach darüber – besonders, weil zwei Tage zuvor ein zweites Mädchen verschwunden war.
Zuerst hatte die Polizei gesagt, es gäbe keinen Hinweis darauf, dass das Verschwinden des zweiten Mädchens irgendetwas mit dem ersten zu tun hatte. Zumindest war das die offizielle Sprachregelung. Aber kein Mensch glaubte, dass sie tatsächlich dieser Meinung waren.
»Zwei Mädchen im gleichen Alter, beide mit langen dunklen Haaren – natürlich gibt es da einen Zusammenhang«, behauptete Derek Fowler, mit dem ich drei Kurse gemeinsam hatte. »Seht euch doch nur mal die Umstände an – sie waren beide angeblich auf dem Heimweg, es war kurz nach Einbruch der Dunkelheit, aber sie sind nie angekommen. Glaubt mir, da draußen läuft ein Serienkiller herum.«
Derek behauptete, alles über Serienkiller zu wissen. Er betrachtete sich als eine Art Experten. »Wenn das erste Mädchen tot aufgefunden wurde, könnt ihr Gift darauf nehmen, dass es mit dem zweiten genauso sein wird. Bei Serienmördern geht es immer um Muster und Rituale. Wenn die Polizei sie je schnappen, dann nur damit – indem sie ihre Muster und Rituale studiert. Das FBI hat ein besonderes Ausbildungsprogramm zu Serienkiller.«
Derek redete häufig davon, dass er eines Tages zum FBI gehen und lernen würde, wie man Serienkiller aufspürt. Aber meist klang er, als würde er selbst mal ein Serienmörder werden. Aber diesmal war es anders. Fast alle in der Stadt waren derselben Meinung wie Derek.
Derek behauptete, dass die Polizei das auch glaube, selbst wenn sie es nicht offen zugäbe. »Entweder das, oder sie sind völlig inkompetent«, stellte er fest. Es gab einfach zu viele Zufälle, als dass es zwischen den
beiden verschwundenen Mädchen keinen Zusammenhang geben könnte.
Der Gedanke, dass ein Serienmörder unterwegs war, machte die Leute nervös. Eltern warnten ihre Töchter davor, irgendwo allein hinzugehen. Sie rieten ihnen, nie mit Fremden zu sprechen. Sie hoben warnend den Finger und beschworen sie, zu niemandem ins Auto zu steigen, nicht einmal zu Leuten, die sie schon öfter gesehen hatten und die scheinbar nett waren, denn man konnte ja nie wissen, sagten sie. In der Schule gab es extra eine Versammlung dazu, bei der uns ein Polizist mehr oder weniger dasselbe sagte. Die Schule verteilte eine Checkliste an die Eltern, die ihnen sagte, was sie tun oder vermeiden sollten. Meine Mom zwang mich, sie laut vorzulesen, damit sie wusste, dass ich alles verstanden hatte. Als ich fertig war, sagte sie: »Tu, was sie sagen, Stephanie.« Außerdem sagte sie: »Denk nicht einmal daran, wieder wegzulaufen. Was diesen beiden Mädchen geschehen ist, könnte auch dir passieren. « Und um sicherzugehen, dass ich es auch nicht vergaß, klebte sie einen Zeitungsausschnitt an die Kühlschranktür, in dem über das Verschwinden der beiden Mädchen berichtet wurde und der ihre Fotos zeigte.
»He, die beiden sehen fast so aus wie du«, bemerkte Gregg eines Morgens, als ich zum Frühstück hinunter kam. Er
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