Zwei Sommer
wie er mich geküsst hat? Ob er schon mit ihr geschlafen hat? Ich will es gar nicht wissen. Verdammt, ich will es aber doch wissen! Schlimmer kann’s gar nicht mehr werden. Oder doch? Oh bitte nicht, das stehe ich nicht durch!
Ich klingle. Niemand da. Oder niemand, der Lust hat, mir die Tür zu öffnen. Ich starre von der Straße hoch zu Isas Fenster. Augenblicklich beginne ich mich zu fragen, ob ich das Zimmer hinter diesem Fenster jemals wieder betreten werde.
Ich setze mich auf die Treppe und warte. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Eine Stunde.
Irgendwann spiele ich mit dem Gedanken, Isabella eine bösartige Nachricht zu hinterlassen. Aber dieser Gedanke befriedigt mich überhaupt nicht. Einen Zettel in den Briefkasten zu werfen ist ungefähr so effektiv wie die Wand anzuschreien. Ich will ihr gegenüberstehen. Ich will ihr in die Augen sehen. Ich will sie ihr mit meinen eigenen Händen auskratzen.
Aber sie lässt mich nicht. Sie lässt mich einfach nicht. Sie lässt zu, dass mich meine Traurigkeit fast um den Verstand bringt. Sie lässt mich allein mit meiner kaputten Welt und mit diesem Matschherz in der Brust, das nicht weiß, warum es überhaupt noch schlägt.
Ich schleppe mich nach Hause. Ich schließe mich in meinem Zimmer ein, setze mir Kopfhörer auf und höre Foo Fighters in voller Lautstärke. Mein Handy behalte ich in der Hand, damit ich nicht verpasse, wenn es vibriert. Aber es vibriert nicht. Ich höre Foo Fighters in Schleife, bis ich vor Müdigkeit die Augen nicht mehr offen halten kann.
Als der Wecker am nächsten Morgen klingelt, dauert es nur eine Millisekunde, bis mir wieder einfällt, dass mein Leben ein Trümmerhaufen ist. Ich schaue zuerst aufs Handy. Kein Anruf. Keine Nachricht.
Es gibt für mich nur einen einzigen Grund trotzdem aufzustehen: Isa und die Chance, sie in der Schule zur Rede zu stellen. Sie kann mir gar nicht ausweichen. In vier von sieben Stunden sitzen wir nebeneinander. Das ist wohl normal, wenn man befreundet ist. In unserem Fall wird das die reinste Folter. Oder eine Art Schocktherapie. Ich muss sie einfach sehen. Sie soll mir ins Gesicht sagen, dass das alles wahr ist, dass das kein böser Traum ist, den sich jemand für mich ausgedacht hat, um zu testen, wie viel ich ertragen kann.
Solange ich es nicht aus ihrem Munde höre, habe ich noch Hoffnung, und diese Hoffnung ist im Augenblick das Einzige, was mich daran hindert, so richtig auszurasten.
Doch zugleich erscheint mir die Vorstellung, Isa zu begegnen, unerträglich. Ich will nicht, dass sie aussieht wie immer. Weil nämlich nichts mehr ist wie immer und auch nie wieder sein wird, wenn’s nach mir geht. Und schon gar nicht werde ich den Anblick ihrer Lippen ertragen. Den Anblick ihres verfluchten rosa glitzernden Schmollmunds mit Erdbeergeschmack, zu dem ich blöde Kuh sie auch noch angestiftet habe, als wir neulich shoppen waren. Da konnte ich ja schließlich nicht ahnen, dass sie damit bei der nächstbesten Gelegenheit auf Oliver losgehen würde. Ich werde ihre Lippen sehen und ich werde mir die ganze Zeit ausmalen, wie diese Lippen Oliver geküsst haben. Und wie Oliver diese Lippen geküsst hat.
Ich kritzle kleine fiese Monster in meinen Schreibblock, die sich gegenseitig die Köpfe abbeißen. Isabella ist noch nicht da, dabei müsste es jeden Moment zum Unterricht klingeln. Vielleicht kommt sie ja gar nicht. Vielleicht täuscht sie ihrer Mutter mal wieder eine Erkältung vor, wie sie es sonst immer macht, wenn sie Panik vor einer unbezwingbaren Klassenarbeit hat. Dann brüllt sie die Nacht zuvor in ihr Kissen, damit ihre Stimme am Morgen schön heiser ist und ihre Mam ihr eine Entschuldigung schreibt. Dieser Trick ist eines unserer großen Geheimnisse. Aber mal ehrlich: Hat Isa noch irgendein Recht auf meine Verschwiegenheit? (Hey, alle mal herhören! Isabella brüllt nachts in ihr Kissen!)
Vielleicht hat sie ja bereits die Stadt verlassen. Das Land. Diesen Planeten.
Nein, hat sie nicht. Da steht sie. Kichernd und wild gestikulierend steht sie im Türrahmen zu unserem Klassenzimmer. Mit Vanessa. Vanessa!? Ich glaube, ich sehe nicht richtig. Vanessa ist so etwas Ähnliches wie unser Gegenteil. Isa und ich haben uns bereits in der ersten Klasse darauf geeinigt, dass wir sie aus verschiedenen Gründen doof finden. Und seit der Fünften wissen wir ganz sicher, dass wir nie so werden wollen wie sie. Da hat Vanessa bei den Jungen in unserer Klasse doch tatsächlich eine schriftliche Umfrage gestartet und
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