Zwei Sommer
Zettel verteilt. »Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja, Nein, vielleicht.« Ich dachte damals schon, diese Masche wäre total out, aber diese Trottel, meine Mitschüler, haben die kleinen Zettelchen artig ausgefüllt und sie ihr zugesteckt. Lauter kleine, ordentlich gefaltete Jas, und alle hofften sie auf ein Zeichen der Zuneigung. Vanessa hat die Jas dann in der Hofpause in unserem Beisein ausgezählt und sich furchtbar darüber amüsiert, wie diese Milchbubis bloß auf die verrückte Idee kommen konnten, eine Fee wie sie könnte ernsthaft Interesse an ihnen haben. Besagte Zettel kleben – erzählt man sich – seit diesem Tag in Vanessas Tagebuch und bescheren ihr in regelmäßigen Abständen ein gutes Gefühl.
Vanessa gehört außerdem zu jener Sorte Mädchen, die Knutschflecken wie Gütesiegel zur Schau tragen. Und sie liebt es, auf jene blauvioletten Beweise ihrer eigenen Unwiderstehlichkeit angesprochen zu werden. Am liebsten trägt sie diese Mahnmale in Kombination mit Eintrittsstempeln von Discotheken, in die wir eigentlich noch gar nicht reindürfen. Leider hat Vanessa einen großen Bruder, der ihr regelmäßig Zutritt zu den angesagten Discos verschafft. Isa und ich verfügen bedauerlicherweise weder über einen großen Bruder noch über die erforderliche Oberweite oder eine ausgefeilte Schminktechnik, um uns an den strengen Blicken der Einlasser vorbeizumogeln. Isa und ich. Ich und Isa. Diese Wortgruppe streiche ich von nun an aus meinem Sprachschatz.
Isa hat sich offensichtlich ausgekichert mit ihrer neuen besten Freundin und kommt zu unserem Platz. Ich schaue ihr direkt in die Augen und denke mir, ich könnte genauso gut eine Waffe auf sie richten. Sie sieht an mir vorbei oder durch mich hindurch. Mir dreht sich der Magen um und ich habe das Gefühl, meine Wangen sind heiß genug, um darauf Spiegeleier zu braten. Oder ex-beste Freundinnen.
»Du bist echt das Allerletzte!« Es fällt schwer, so einen Satz zu flüstern, aber bis zum Ende der Stunde hätte ich ihn nicht auf der Zunge behalten wollen. Isa verzieht keine Miene. Schließlich öffnet sie den Mund wie in Zeitlupe und die Worte kleckern ihr über die Lippen: »Es tut mir leid. Es ist einfach so passiert.« Dann schließt sich der Mund wieder und bleibt geschlossen für eine ziemlich lange Weile.
»Wollte Isabella nicht zum Essen bleiben?« Als ich wieder ins Esszimmer komme, nachdem ich Isa erfolgreich vertrieben habe, hat meine Mutter schon für sie gedeckt.
»Nein, wollte sie nicht.« Dreist genug, dass sie sich überhaupt noch traut, hier aufzukreuzen!
»Dabei gibt’s heute Tomatensalat. Den isst sie doch so gerne.«
»Isa ist auf Diät.«
»Von Tomaten wird man doch nicht dick!«, empört sich meine Mutter.
»Isa schon.«
Mann, wie sieht’s aus, können wir vielleicht mal das Thema wechseln?
»Marie, kannst du nicht mal für fünf Minuten das Scheißding beiseitelegen?«
Na also.
Das Scheißding ist mein Handy und ich lasse es nicht aus den Augen, bis Oliver mich endlich anruft. »Gleich.«
»Nein, sofort.« Aus den Augenwinkeln beobachte ich meine Mutter, die kurz vor der Explosion steht.
Das Abendessen ist ihr heilig, weil »die Familie« ja so selten zusammen ist. Die Familie, das sind meine Eltern, mein kleiner Bruder Lenny und ich. Seit mein Vater in seiner Klinik zum Chefarzt der Gynäkologie aufgestiegen ist, hat er ständig Bereitschaft. Und es kommt wirklich nicht selten vor, dass so ein Baby beschließt, ein paar Wochen zu früh auf die Welt zu kommen. Ich verstehe diese Würmchen nicht. Warum haben sie es so eilig? Es geht ihnen doch gut, da wo sie sind. Den ganzen Tag herumschwimmen in einer großen Fruchtblase, Verantwortung für nichts und niemanden, nur so ein bisschen wachsen – das stelle ich mir großartig vor.
»Hoffentlich habt ihr nächste Woche schönes Wetter. Für hier haben sie ja Regen angesagt. Ganz schön gemein, ausgerechnet am Ferienanfang.« Wenn meine Mutter wüsste, dass Regen in den Ferien gerade meine kleinste Sorge ist! Zwei Wochen Spanien. Mit dem Bus nach Tossa de Mar – Meer, Sonne, Strand, Sangria. Das war der Plan, bevor Isa beschloss, mir meinen Freund auszuspannen.
»Mama, Stefan hat eine Depässion.« Das war mein kleiner Bruder Lenny. Lenny ist acht, total klug und Stefan ist sein Meerschweinchen und total doof. Stefan stammt aus dem Zoo und sollte eigentlich mal ein leckeres Festmahl für die dort ansässigen Pythons werden. Was Stefans Herkunft und ursprüngliches
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