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Zweiherz

Titel: Zweiherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Briefe.
    Der junge Navajo-Indianer strich sich das schulterlange Haar aus der Stirn, nahm eines der abgegriffenen Schwarz-Weiß-Fotos in die Hand und betrachtete es genauer. Er selbst war darauf zu sehen und Kaye Kingley. Er hatte den Arm um das Mädchen mit den dünnen Beinen und dem langen Zopf gelegt und sie griente ihn zufrieden an. Auf ihrem Schoß ein winziges Fellbündel. Das Foto war an ihrem zehnten Geburtstag entstanden. Damals hatte er ihr einen kleinen Mischlingshund geschenkt und sie hatte ihn Jazz genannt.
    Will erinnerte sich daran, dass Kaye vor Freude über den kleinen Hund am ganzen Körper gezittert hatte. Beim Gedanken daran, wie sie versucht hatte, ihre Freude nicht zu überschwänglich zu zeigen, weil die Navajo-Geister das nicht mochten, musste er lächeln.
    Er legte das Foto zu den anderen in den Karton zurück und fragte sich, ob Jazz wohl noch lebte. Möglicherweise stand die Antwort auf seine Frage in einem dieser vielen Briefe. Vielleicht stand in diesen Briefen auch, dass Kaye bald heiraten würde. Irgendeinen netten jungen Mann, vielleicht sogar einen bilagáana , einen Weißen. Es war durchaus möglich, schließlich war sie selbst zur Hälfte weiß.
    In zwei Monaten hatte sie ihren achtzehnten Geburtstag. Dieses Datum hatte er nicht vergessen und dieser Tag war in den vergangenen Jahren immer besonders schlimm für ihn gewesen. Weil er nicht bei ihr sein konnte. Weil er ausgeschlossen war aus ihrem Leben, ausgeschlossen von allem, was hózhó , was schön war. Will wusste, dass Kaye ihre kinaaldá , die Reifezeremonie, längst hinter sich hatte. Seitdem war sie nach altem Brauch heiratsfähig - eine junge Frau.
    Kaye war mit zwölf schon hübsch gewesen, mit ihren großen blauen Augen im runden Gesicht und dem feinen rötlichen Schimmer im dunklen Haar. Wie sehr sie sich auch verändert haben mochte in den vergangenen fünf Jahren, er würde sie überall wiedererkennen.
    Will schnürte den Karton zu und schob ihn in seinen Rucksack. Auf der Pritsche lagen die Mappe mit seinem Highschool-Abschlusszeugnis und die neuen Kleidungsstücke, die Hank, sein Freund und Zellennachbar, ihm besorgt hatte. Ein Jeansanzug der Marke Lee, ein schwarzes T-Shirt und Schnürschuhe aus Rindsleder.
    Schon mehrere Male hatte Will seine Nase an dieses Leder gepresst, um den intensiven Geruch einzusaugen. Die Schuhe waren das Einzige in seiner winzigen Zelle, das nach Freiheit roch. Diese 2x4 Meter waren zwei lange Jahre der Raum für sein Leben gewesen. Ein Käfig. Die schmale Stahlpritsche an der Wand mit der dünnen Matte, ein Waschbecken und eine Stahltoilette waren seine Einrichtung. Nach drei Jahren im Jugendgefängnis hatte man ihn ohne Angabe von Gründen eines Tages hierherverlegt.
    Inzwischen hatte er auch herausgefunden, warum: Die Jugendgefängnisse waren überfüllt mit jungen Straftätern, die noch nicht einmal sechzehn waren. Und die Unterbringung in einem Staatsgefängnis war zudem weitaus billiger.
    Für ihn waren die vergangenen beiden Jahre die Hölle gewesen. Er hatte Dinge gesehen und erlebt, die er niemals vergessen würde. Sie hatten Narben an Körper und Seele hinterlassen.
    Will hasste den Lärm der Nächte, der in ihn eindrang und ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Das Gefängnis war ein dunkler, ein freudloser Ort. Ein Ort voller Gewalt und Hass. Niemand wurde besser hier drin. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder man passte sich den rauen Bedingungen an oder man drehte durch. Will hatte sich nicht angepasst. Und er hatte gesungen, um nicht durchzudrehen. Anfangs hatten ihn die anderen dafür verlacht und ihm mit grausamen Späßen das Leben schwer gemacht. Aber irgendwann hatten sie den verrückten Indianer in Ruhe gelassen.
    Obwohl Will in den vergangenen Monaten an nichts anderes als an Kaye, seinen Großvater und die Freiheit gedacht hatte, war ihm jetzt, wo die Zeit seiner Haft ganz unvermutet beendet werden sollte, mulmig zumute. Er hatte Angst. Würde er zurechtkommen dort draußen? Würde er sich nicht verloren vorkommen, wenn die Welt plötzlich nicht mehr von Mauern und Gitterstäben begrenzt war?
    Sein Vater lebte nicht mehr. An seine Mutter konnte Will sich nicht einmal erinnern, sie war gestorben, als er zwei Jahre alt war. Ihre Familie lebte irgendwo in Flagstaff, sie waren Stadtindianer. Er hatte nie etwas mit ihnen zu tun gehabt. Ihren Eltern und den Brüdern seiner Mutter hatte es nicht gefallen, dass sie den gut aussehenden, aber wenig geschäftstüchtigen John

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