Zweiherz
Das eigene ist viel spannender, glaube mir.«
Kaye fragte sich, an welcher Stelle Shelley Gardens Leben spannend sein sollte, abgesehen vielleicht von ihren Jungsgeschichten. Sie hörte dem Geplänkel ihrer beiden Freundinnen nur noch mit halbem Ohr zu. Es ärgerte sie, wenn sich jemand über ihren kleinen Laden auf der anderen Seite des Parkplatzes lustig machte, auch wenn der Spott von ihrer zweitbesten Freundin Shelley kam und nicht wirklich ernst gemeint war. BÜCHER - POSTKARTEN - KUNSTGEWERBE stand über ihrem Schaufenster.
»Ich verkaufe ja nicht nur Bücher«, verteidigte sich Kaye. »Der Silberschmuck und die Webteppiche gehen wirklich gut. Die Keramik auch.« Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Kaye den Laden übernommen. Sie öffnete ihn am Nachmittag, wenn die Schule beendet war, und in den Sommerferien und an den Sonnabenden hatte sie den ganzen Tag über auf. Wenn die anderen aus ihrer Klasse Spaß hatten, zusammen zum Baden fuhren oder zum Picknick, stand Kaye hinter dem Ladentisch und verkaufte indianische Kunstgewerbearbeiten und Bücher über die Kultur ihres Volkes. Sie hätte das nicht tun müssen, denn ihr Vater war kein armer Mann. Aber sie hatte sich vorgenommen, den Laden ihrer Mutter weiterzuführen, solange das möglich war. So bewahrte sie etwas, das ihrer Mutter wichtig gewesen war, und zugleich war sie finanziell nicht völlig von ihrem Vater abhängig.
»Ja, im Sommer vielleicht«, sagte Shelley, »wenn sich ein paar Touristen auf dem Weg zum Grand Canyon hierherverirren.« Sie rümpfte die Nase.
»Was willst du, Shelley?« Kaye breitete die Arme aus und lachte versöhnlich. »Es ist Sommer.«
Vor einer Woche hatten die drei Mädchen ihren Highschool-Abschluss gemacht. Sie wollten nun ein Jahr lang arbeiten, um sich etwas Geld zu verdienen, und dann zusammen aufs College nach Santa Fe gehen. Kaye würde in den kommenden Monaten in ihrem Laden stehen und Navajokunst verkaufen. Shelley würde ihrer Mutter als Kellnerin in dem kleinen Schnellrestaurant helfen, in dem sie gerade saßen, und Teena würde auf der Pferderanch ihrer Eltern Reitstunden geben und geduldig die Fragen der Touristen beantworten.
Kaye stand auf und küsste beide Freundinnen flüchtig auf die Wange. »Jetzt muss ich wirklich gehen. Der Mittagsbus ist gerade durch und vielleicht verirrt sich jemand in meinen Laden. Außerdem hast du Kundschaft, Shelley.« Sie deutete auf eine alte Indianerin, die mit ihrem Enkel an einem Tisch in der Ecke die Karte studierte. »Bis heute Abend!«, verabschiedete sie sich.
»Ja, wir sehen uns bei Rob«, erwiderte Teena Tommy, die ein dunkelhäutiges Navajomädchen war und Kayes beste Freundin.
Teena lebte mit ihren Eltern und Großeltern auf einer kleinen Ranch nahe Chinle, am Eingang zum Canyon de Chelly. Die Familie betrieb Pferdezucht und bot Touristen Ausritte in den Canyon an. Teena war eine hervorragende Reiterin und hatte Kaye eine Menge über Pferde beigebracht. In den Sommermonaten war Kayes Freundin dann jedoch immer so eingespannt auf der Ranch ihrer Eltern, dass die beiden kaum Zeit hatten, sich zu sehen. Deshalb freuten sie sich auf die Geburtstagsparty ihres gemeinsamen Kumpels Robert Lindsay, die am Abend steigen sollte.
Kaye winkte ihren Freundinnen zu und grüßte im Hinausgehen Laura Garden, Shelleys Mutter und Besitzerin des Green-Garden-Schnellimbisses. Dann eilte sie über den großen Parkplatz zu ihrem Laden hinter der Shell-Tankstelle. Der dunkle Asphalt glühte unter der Mittagshitze, die Luft flimmerte und machte das Atmen schwer. Nur schnell in den Laden, der zum Glück eine Klimaanlage hatte …
Auf halbem Wege blieb Kaye so abrupt stehen, als hätte ihr jemand einen heftigen Stoß gegen die Rippen versetzt. Nun blieb ihr wirklich die Luft weg. Trotz der Hitze überfiel sie ein Zittern, das bis in die Magengrube zu spüren war. Ihr Herz schlug, als wolle es aus ihrer Brust springen. Vor dem Schaufenster ihres Ladens stand jemand. Sie hatte ihn fünf Jahre lang nicht mehr gesehen und dennoch sofort wiedererkannt, obwohl er ihr den Rücken zuwandte. Das konnte nur er sein: Will Roanhorse. Der Adler hatte sein Kommen angekündigt. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell passieren würde.
Kayes Beine weigerten sich weiterzugehen, und ihr Körper fühlte sich auf einmal ganz schwer an. Sie sah Wills und ihr eigenes Spiegelbild in der Schaufensterscheibe, und ihr war klar, dass auch er sie sehen musste. Kaye versuchte, ihr Herz zu beruhigen,
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