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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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aber sie rührte sie nicht. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Jay«, formte sie mit den Lippen. Dann beugte sie sich vor und streckte ihm die Hand hin. Benommen verharrte er, während die Muskeln in seinen Beinen so sehr zitterten, dass er fast wieder abrutschte. Links oben der Rand des Pfeilers, rechts unter ihm der Abgrund. Und das war’s. Das Ende. Wozu bist du hier hochgerannt? Um wegzufliegen? Beinahe hätte er gelacht.
    Noch einmal hielt er Ausschau nach Ivy. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er sie entdeckte. Sie hing unendlich weit unter ihm und war immer noch bewusstlos. Bei diesem Anblick wurde ihm noch elender zumute. Hoffentlich nur bewusstlos! Ihre Arme baumelten wie bei einer Puppe leblos neben ihrem Kopf. Der zweite Fuß hatte sich ebenfalls im Seil verfangen und war angewinkelt. Sie sah aus wie eine Ballerina, erstarrt in einer schwebenden Pose über dem Abgrund. Nur das Seil schwang hin und her und ließ sie tanzen. Gefährlich nah pendelte sie an den Längsträgern vorbei, die wie aufgebogene Rippen über die Brücke hinausragten. Noch entging sie ihnen um Haaresbreite, aber jeden Augenblick musste sie zerschmettert werden.
    »Jay, sieh nicht nach unten!«, schrie ihm das Mondmädchen zu. »Du verlierst das Gleichgewicht.« Na und? , dachte er niedergeschlagen. Trotzdem hob er mühsam den Blick. Salz brannte auf seinen Lippen, und er wusste nicht, ob er seine Tränen schmeckte oder das Wasser des Atlantiks. Das Mondmädchen streckte ihm immer noch die Hand hin, fast bittend war diese Geste. Und obwohl sie Wendigos Dienerin war, ergriff er ihre Hand und ließ sich das letzte Stück hochziehen. Woher weiß man, dass man jemanden wirklich liebt? , dachte er. Wenn man bereit ist, bei einer Mörderin um ein Leben zu flehen? »Bitte nicht sie«, stieß er hervor. »Er wird mich töten, aber lass Ivy nicht sterben!«
    Das Mondmädchen runzelte verwirrt die Stirn, als würde er ein seltsames Spiel mit ihr spielen. Endlich schien sie zu begreifen, was er von ihr wollte. Und sie überraschte ihn ein letztes Mal. »Du denkst wirklich, er lässt mich davonkommen?«, rief sie und lachte verzweifelt auf. »Er wird auch mich verschlingen!«
    *
    Jay sagte nichts mehr. Sein Gesicht war aschgrau geworden. Frost hing an seinen Wimpern, er blinzelte, als würde das Eis ihn blenden. Die Gesichter waren bedrohlich nah und Mo konnte ihre Nähe nicht länger ertragen. Als sie den Kopf abwandte, sah auch sie das Mädchen. Sie hatte es fast schon vergessen. Lass Ivy nicht sterben , echoten Jays Worte in ihrem Inneren.
    Immer noch pochten die Druckstellen an ihrem Hals bei jedem Schlag ihres rasenden Herzens, aber aus irgendeinem Grund war das in Wendigos Gegenwart nicht mehr wichtig. Wir haben Angst und wir leiden auf dieselbe Art. Aber selbst wenn ich sie retten wollte, was kann ich noch tun? Im selben Moment entdeckte sie am Ufer eine schwarze Gestalt. Sie kauerte dort und sah zu ihr hoch. Trotz allem wurde Mo warm. Die Älteste hatte sie nicht verlassen. Night konnte nicht an den vereisten Seilen hochklettern und sie würde sie nicht retten können. Aber sie lässt mich nicht allein!
    Flieh!, wollte Mo ihr schon zurufen. Aber dann fiel ihr Blick wieder auf Ivy. »Hol sie!«, flüsterte sie in den Wind. Und als Night aufhorchte und ruckartig den Kopf hob, wusste sie, dass die Älteste sie gehört hatte.

herz aus eis
    j eder Gedanke schien einzufrieren, aber verzweifelt hielt Jay mit dem Blick an Ivy fest. Es schien wichtig zu sein, sie wenigstens auf diese Art nicht loszulassen. Immer noch pendelte sie hin und her, auch wenn das Eis zur Ruhe gekommen war. Es war eine gefährliche Ruhe, als würde Wendigo ein letztes Mal Atem holen. Und mitten im tiefsten Punkt dieses Atemzugs sah Jay eine Bewegung am Rand der Brücke. Es war Linda. Sie hangelte sich blitzschnell über verbogene Streben. Dann verharrte sie kauernd, eine dicke Frau mit Rastazöpfen in einem blauen Kleid. Als Ivy in ihre Richtung schwang, lehnte sie sich ihr entgegen und schnappte sie aus der Luft – in dem Moment, in dem das Seilende seinen Umkehrpunkt erreicht hatte und dort kurz in der Luft ruhte. Linda hielt das Seil fest, das viel zu schwer sein musste, als dass eine Menschenfrau es hätte halten können. Sie durchbiss die Fessel – und Ivy fiel in Arme, die länger wurden, muskulöser und so schwarz, dass das Wesen sich wie ein Schattenriss von dem blau leuchtenden Eisstrom unter der Brücke abhob. Jay konnte es nicht fassen. Sie bringt

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